Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 2: Umsetzung

Freia De Bock , Martin Dietrich , Eva Annette Rehfuess

(letzte Aktualisierung am 05.08.2022)

Zitierhinweis: de Bock, F., Dietrich, M. & Rehfuess, E. (2022). Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 2: Umsetzung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i112-1.0

Zusammenfassung

In Ergänzung zum Leitbegriff Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis werden in diesem Leitbegriff Prinzipien und Kriterien vorgestellt, deren Anwendung zum einen dazu dient, das Handeln der Akteurinnen und Akteure in Prävention und Gesundheitsförderung insgesamt evidenzbasierter zu gestalten (= Perspektive evidenzbasierte Entscheidungen in Prävention und Gesundheitsförderung), zum anderen Maßnahmen in der Prävention und Gesundheitsförderung möglichst evidenzbasiert umzusetzen bzw. weiterzuentwickeln (= Perspektive evidenzbasierte Maßnahmen bzw. Interventionen). Die Anwendung und Umsetzung dieser Prinzipien und Kriterien ist von Herausforderungen gekennzeichnet. Welche Lösungen es für diese Herausforderungen gibt, wie die Umsetzung von Evidenzbasierung im Feld der Prävention und Gesundheitsförderung gelingen kann und welche Schritte dazu notwendig sind, wird in diesem Leitbegriff skizziert.

Schlagworte

Evidenzbasierung, evidenzinformiert, Systematische Reviews, Leitlinien, Decision-Making


Perspektive evidenzbasierte Entscheidungen: Voraussetzungen und Strukturen für eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung

Für die Umsetzung der im Leitbegriff Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis genannten Prinzipien S (Systematisch), T (Transparent), I (Integration und Partizipation), I (Interessenskonflikt), P (strukturierter Prozess) (STIIP) und Umsetzungsfaktoren T (Theorie), I (Interdisziplinär), K (Kontext), K (Komplexität), A (allgemeine gesellschaftliche Aspekte) (TIKKA) sind standardisierte Verfahren und Strukturen erforderlich, um letztlich evidenzbasierte Entscheidungen, z. B. in Form von evidenzbasierten Leitlinien und Empfehlungen, zu ermöglichen.

In Großbritannien ist das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) die Institution, die für zahlreiche nationale Fragen rund um die Gesundheit – Fragen der Therapie, Pflege oder Public Health – Leitlinien nach einem solchen Verfahren entwickelt (NICE, 2014). Ähnliche institutionelle Verankerungen und Vorgehensweisen gibt es auch in den USA (United States Preventive Services Task Force) und Kanada (Public Health Agency of Canada) sowie in einigen anderen Ländern. In Deutschland existiert dagegen keine nationale Behörde oder Einrichtung, die für alle Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung Leitlinien oder Handlungsempfehlungen formuliert.

Je nach Themenfeld liegen die Verantwortlichkeiten für Entscheidungen und mehr oder weniger evidenzbasierte Empfehlungen auf nationaler Ebene bei Institutionen wie dem Robert Koch Institut (z. B. Ständige Impfkommission), dem GKV-Spitzenverband (z. B. Leitfaden Prävention), dem Umweltbundesamt (z. B. Empfehlungen und Stellungnahmen zu Trinkwasser), der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (z. B. Handlungsempfehlungen zur Prävention von Depression im Rahmen der Reihe „Erkennen – Bewerten – Handeln“), dem Max Rubner Institut für Ernährungsforschung (z. B. Nationale Stillkommission) oder sie sind direkt im Bundesministerium für Gesundheit (z. B. „Wegweiser zum gemeinsamen Verständnis von Prävention und Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland“) angesiedelt.

Orientierung an etablierten Verfahren der evidenzbasierten Entscheidungsfindung

Für die Entwicklung von Handlungsempfehlungen zu Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland lohnt sich die Orientierung an etablierten Verfahren aus dem In- und Ausland. Im Inland kann zum Beispiel die evidenz- und konsensbasierte Entwicklung von S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) Pate stehen, ebenso das Vorgehen der Ständigen Impfkommission bei der Entwicklung von Empfehlungen zur. Hinsichtlich Public Health-Leitlinien bieten international sowohl NICE (NICE, 2014) als auch die Weltgesundheitsorganisation eine solide methodische Orientierung (World Health Organization, 2014). Prinzipiell bietet es sich an, bei der Entwicklung von Handlungsempfehlungen für Deutschland vorab nach existierenden internationalen Leitlinien insbesondere der WHO zu suchen.

Merkmale von etablierten Verfahren zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung

Typischerweise bestimmen solide methodische Vorgehensweisen für die Erhebung und Bewertung von Evidenz sowie etablierte Verfahren zur Entscheidungsfindung die Evidenzbasierung von Public Health-Entscheidungen und -Empfehlungen. Auf diese Weise werden die im Leitbegriff Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis beschriebenen STIIP-Prinzipien der Evidenzbasierung sowie die TIKKA-Umsetzungsfaktoren für die Praxis (beide im Folgenden in Klammern kursiv markiert) operationalisiert.

Ein Prozess zur Entwicklung evidenzbasierter Handlungsempfehlungen ist durch einen festgelegten, systematischen Ablauf mit klar definierten Schritten gekennzeichnet (Strukturierter, reflektierter Prozess). Diese umfassen die Einrichtung und Einberufung eines entsprechenden Gremiums sowie die Offenlegung von Interessen und deren Management, die Absteckung des Rahmens der Handlungsempfehlungen (= Scoping), die Abstimmung und Festlegung von Kriterien für die Entscheidungsfindung sowie die Formulierung spezifischer Fragestellungen, die Erhebung und Bewertung von Evidenz zu diesen Fragestellungen und die Formulierung von Empfehlungen unter Berücksichtigung der vorliegenden Evidenz und der festgelegten Kriterien.

Konkrete Schritte beim Aufbau von Verfahren zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung

Alle Schritte im Prozess zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung sollen explizit und transparent dargestellt werden. Das gilt ebenso für die Offenlegung von Unsicherheiten hinsichtlich der Evidenzlage und der Formulierung von Handlungsempfehlungen (Transparenz im Umgang mit Unsicherheit). Im Folgenden werden die Schritte genauer beschrieben.

  • Einrichtung und Einberufung des Gremiums: Entscheidend ist die Zusammensetzung des Gremiums, das Handlungsempfehlungen entwickelt. Eine Beteiligung betroffener Institutionen (z. B. Behörden, Kommunalvertreter, wissenschaftliche Fachgesellschaften) und Stakeholder-Gruppen (z. B. Nicht-Regierungsorganisationen, Elternorganisationen) soll sicherstellen, dass alle relevanten Aspekte des Themas betrachtet werden. Außerdem soll sie die Akzeptanz der Handlungsempfehlungen erhöhen (siehe Prinzip Integration und Partizipation). Institutionen (z. B. Industrieverbände) und Individuen (z. B. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die regelmäßig finanzielle Zuwendungen der Industrie erhalten) mit harten Interessenkonflikten, sollen vom Prozess der Entscheidungsfindung ausgeschlossen sein (siehe Prinzip Umgang mit Interessenkonflikten). Hintergrund: Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Akteurinnen und Akteure nicht vorrangig die Interessen der Betroffenen bzw. der Zielgruppen einer Handlungsempfehlung vertreten, sondern von sonstigen Interessen geleitet sind.
  • Rahmen (Scoping), Kriterien und Fragestellung für die Entscheidungsfindung: Bei klinischen Leitlinien steht das Kriterium Wirksamkeit bzw. ein Abwägen der positiven und negativen gesundheitlichen Folgen einer Maßnahme im Mittelpunkt, auch wenn die Werte und Präferenzen von Patientinnen und Patienten sowie gegebenenfalls die Kosten einer Maßnahme eine wichtige Rolle spielen. Handlungsempfehlungen zu Prävention und Gesundheitsförderung sollen dagegen eine größere Bandbreite von Aspekten berücksichtigen, um den potenziellen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen einer Handlungsempfehlung gerecht zu werden (siehe TIKKA-Prinzip Gesellschaftliche Aspekte). Die zugrundeliegenden Werte und Interessen der beteiligten Stakeholder spielen hierbei eine wichtige Rolle. Ein Instrument, das die Möglichkeit bietet, diese breitere Sicht in der Formulierung von Public Health-Empfehlungen und -Leitlinien zu berücksichtigen, ist das WHO-INTEGRATE Evidence-to-Decision Framework (Rehfuess et al., 2019). Es kommt zunehmend bei der Entwicklung von WHO-Leitlinien zu Public Health-Fragestellungen zum Einsatz und schlägt folgende sechs Kriterien vor, die für jede Empfehlung bzw. Unterempfehlung auf einer 5-stufigen Skala von „spricht stark für“ bis „spricht stark gegen die Empfehlung“ bzw. „nicht beurteilbar“ bewertet werden sollten: 1. Verhältnis von gesundheitlichem Nutzen und Schaden, 2. soziokulturelle Akzeptabilität und Menschenrechte, 3. soziale Ungleichheiten und Nicht-Diskriminierung, 4. gesellschaftliche Auswirkungen, 5. finanzielle Ressourcen und Wirtschaftlichkeit sowie 6. Umsetzbarkeit im Gesundheitssystem. Die Qualität der Evidenz zu diesen Kriterien wird als 7. sogenanntes Meta-Kriterium aufgeführt. Diese Kriterien kommen an mehreren Stellen im Prozess zum Einsatz: Im Rahmen des Scopings und der Formulierung von Fragestellungen soll die Berücksichtigung der Kriterien sicherstellen, dass keine wesentlichen Aspekte vergessen werden. Im Rahmen der Formulierung von Handlungsempfehlungen können die Kriterien bei der korrekten Interpretation der Evidenz, des Zusammenführens bzw. Abwägens unterschiedlicher Aspekte und deren Gewichtung hilfreich sein.
  • Erhebung und Bewertung von Evidenz zur Wirksamkeit: Systematische Übersichtsarbeiten sind das klassische Instrument zur Betrachtung der Wirksamkeit von Maßnahmen sowie von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung (siehe Prinzip Systematik). Im ersten Schritt lohnt eine Bestandsaufnahme existierender systematischer Übersichtsarbeiten zu der vom Gremium formulierten Fragestellung. Wo sinnvoll, kann dies auch mit einer klar definierten Methodik in Form einer Übersichtsarbeit über systematische Übersichtarbeiten (englisch: „umbrella review“, „systematic review of systematic reviews“, „overview of systematic reviews“) stattfinden. Liegt eine passende, aktuelle und hochwertige systematische Übersichtsarbeit zu der vom Gremium formulierten Fragestellung vor, kann diese bei der Formulierung von Handlungsempfehlungen verwendet werden. Dabei sollten Wirkmechanismen zum Beispiel anhand von sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Modellen beschrieben und geprüft werden (siehe Prinzip Theorie). Außerdem sollten Kontextabhängigkeiten sorgfältig betrachtet werden (siehe Prinzip Kontextabhängigkeit und Komplexität). Liegt keine passende systematische Übersichtsarbeit vor, sollte idealerweise eine systematische Übersichtsarbeit durchgeführt oder eine bestehende systematische Übersichtsarbeit aktualisiert werden. Die Qualität einer systematischen Übersichtsarbeit orientiert sich am Vorgehen von Cochrane (Higgins et al., 2019) und kann zum Beispiel mit dem in Box 1 dargestellten AMSTAR-II Tool bewertet werden (Shea et al., 2017).
    Die AMSTAR Kriterien wurden 2007 ursprünglich entwickelt, um die Qualität von systematischen Übersichtsarbeiten über randomisiert-kontrollierte Studien zur Evaluation der Effektivität von Interventionen im Gesundheitssystem zu bewerten. 2017 wurden die Kriterien um die Möglichkeit erweitert, auch Übersichtsarbeiten von nicht-randomisierten Interventionsstudien zu bewerten. Dies hat den Nutzen der AMSTAR II-Kriterien für das Feld der Prävention und Gesundheitsförderung stark erhöht. Die neuen Bewertungskriterien umfassen u. a. die Registrierung der Übersichtsarbeit vor Arbeitsbeginn, die Angemessenheit der Suchstrategie bzw. der Strategie zur Meta-Analyse sowie die Ausschlusskriterien und Verzerrungsrisiken der eingeschlossenen Primärstudien. Für mehr Details wird auf die Website von AMSTAR verwiesen.
    Box 1: AMSTAR II-Kriterien zur Bewertung von Evidenzsynthesen nicht-randomisierter Interventionsstudien

    Die Qualität der Evidenz, die im Rahmen einer systematischen Übersichtsarbeit erhoben wurde, wird im internationalen Kontext und zunehmend auch in Deutschland (z. B. im Rahmen von STIKO-Empfehlungen) mittels des GRADE-Ansatzes (Guyatt et al., 2008) bewertet, um bestehende Unsicherheiten in der Evidenzlage zu erfassen und offenzulegen (siehe Prinzip Transparenz im Umgang mit Unsicherheit).
  • Erhebung und Bewertung von Evidenz zu weiteren Fragenstellungen: Legt das Gremium fest, dass neben einer Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen bzw. des Verhältnisses von gesundheitlichem Nutzen und Schaden, auch weitere Kriterien eine wichtige Rolle spielen, sollten auch hinsichtlich dieser Kriterien Fragen formuliert und nach Evidenz gesucht werden (siehe Prinzip Gesellschaftliche Aspekte). Bei einer umfassenden Betrachtung von Maßnahmen zu Prävention und Gesundheitsförderung bietet sich außerdem eine Perspektive an, die sich explizit mit dem Zusammenspiel einer Maßnahme und dem System, in dem sie umgesetzt wird, befasst (siehe Prinzip Kontextabhängigkeit und Komplexität). Im Gegensatz zu Fragen der Wirksamkeit, die am besten mit randomisierten, kontrollierten und quasi-experimentellen Studien beantwortet werden, kann bei der Beantwortung anderer relevanter Fragen ein breites und interdisziplinäres Methoden-Portfolio zum Einsatz kommen (siehe Prinzip Interdisziplinarität). Zum Beispiel bieten sich bei Fragen zur Akzeptabilität einer Maßnahme bei der Zielgruppe und weiteren Stakeholder-Gruppen qualitative Methoden und gegebenenfalls ein qualitativer systematischer Review an. Die daraus resultierende Evidenz kann dann mit dem in Box 2 dargestellten GRADE CERQual-Ansatz (Lewin et al., 2018) beurteilt werden.
    Der GRADE CERQual-Ansatz wurde entwickelt, um die Ergebnisse aus Übersichtsarbeiten bzw. Evidenzsynthesen von qualitativen Primärstudien für die Entscheidungsfindung in Public Health nutzen zu können, z. B. für die Formulierung von Leitlinien oder von politischen Handlungsempfehlungen. Bewertet wird die Verlässlichkeit der Ergebnisse einzelner Übersichtsarbeiten basierend auf den vier Komponenten 1. Methodische Einschränkungen der eingeschlossenen Primärstudien, 2. Kohärenz der Befunde zwischen Primärstudien und den Ergebnissen der Übersichtsarbeit, 3. Angemessenheit der verwendeten Daten der Primärstudien und 4. Relevanz der Ergebnisse der eingeschlossenen Primärstudien für den jeweiligen Umsetzungskontext. Darüber hinaus wird eine noch final zu sichernde fünfte Komponente einbezogen, nämlich die eingeschränkte Verlässlichkeit durch eine vermutete Publikationsverzerrung („publication bias“). Diese umfassende Bewertung wird transparent in Form einer tabellarischen Übersicht dargestellt. Damit ist der CERQual-Ansatz vergleichbar mit dem GRADE-Ansatz, der für die Bewertung der Verlässlichkeit von Übersichtsarbeiten von quantitativen Studien zur Analyse der Effektivität von Public Health Maßnahmen herangezogen wird.
    Box 2: GRADE CERQual-Ansatz zur Bewertung qualitativer Evidenzsynthesen

    Beim Kriterium soziale Ungleichheiten und Nicht-Diskriminierung können je nach Fragestellung quantitative (z. B. Ausmaß sozialer Ungleichheiten), qualitative (z. B. subjektives Empfinden von Diskriminierung) oder ethisch-analytische (z. B. umfassende Analyse der ethischen Auswirkungen einer Maßnahme) Herangehensweisen zum Einsatz kommen.
  • Formulierung von Handlungsempfehlungen: Die Ausarbeitung von konkreten Handlungsempfehlungen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung ist ein komplexer Prozess. Dieser sollte auf der Grundlage einer systematischen und bewussten Integration der für die Frage relevanten besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, der praktischen Erfahrungen und der Expertise relevanter Fachleute und Stakeholder sowie der Werte und Präferenzen der betroffenen Bevölkerung erfolgen. Um dabei die strukturierte Berücksichtigung wissenschaftlicher Evidenz zu unterstützen, kann, wie bereits oben erwähnt, ein sogenanntes Evidence-to-Decision Framework zum Einsatz kommen. Transparenz (siehe Prinzip Transparenz) hinsichtlich der zugrundeliegenden Werte und verwendeten Kriterien, hinsichtlich der Darstellung von Evidenz sowie Unsicherheiten in dieser Evidenz und hinsichtlich der Stärke einer Empfehlung ist entscheidend, u. a. da es sich meist um die Verwendung öffentlicher Gelder handelt.

Perspektive evidenzbasierte Maßnahmen

Entscheidungen zu Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung auf lokaler oder regionaler Ebene werden in der Regel von Akteurinnen und Akteuren in Praxis und Politik (siehe auch Akteure und Strukturen der Gesundheitsförderung und Prävention) getroffen, deren Hauptaufgabe und -expertise nicht in der wissenschaftlichen Beurteilung und Evaluation von Maßnahmen liegt. Daher ist es wichtig, dass Evidenzbasierung auch auf der Ebene dieser Maßnahmen definiert wird, damit sich Umsetzung und Entscheidungen daran orientieren können. Eine wichtige Voraussetzung, um in Zukunft wissenschaftliche Erkenntnisse zu Maßnahmen besser in die Umsetzung auf dieser Ebene einfließen zu lassen, ist die Entwicklung und Verbreitung von Standards für die Qualifizierung dieser Akteurinnen und Akteuren der Prävention und Gesundheitsförderung (siehe auch Aus- und Weiterbildung in der Prävention und Gesundheitsförderung).

Folgende Bausteine können es Akteurinnen und Akteuren (neben gezielten Qualifizierungsmaßnahmen in Bezug auf Wirksamkeitsnachweise) ermöglichen, in ihren alltäglichen Entscheidungen Evidenzbasierung stärker zu berücksichtigen bzw. beauftragen. Die Umsetzung dieser Bausteine kann zur Kapazitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention beitragen (siehe dazu Capacity Building/Kapazitätsentwicklung).

Baustein 1: Nutzung bestehender Portale für systematische Übersichtsarbeiten

Zur Wirksamkeit von Maßnahmen und Ansätzen der Prävention und Gesundheitsförderung bzw. zu ihren Wirkvoraussetzungen existieren im internationalen Raum bereits viele systematische Übersichtsarbeiten. Diese können in internationalen Datenbanken gesucht und heruntergeladen werden (Box 3). Manche Datenbanken bieten bereits laienverständliche Zusammenfassungen auf Englisch oder Deutsch. Weitere vereinfachte Formate der Kommunikation von Erkenntnissen aus systematischen Übersichtsarbeiten, die die Verständlichkeit und Nutzung durch Nicht-Experten verbessern, werden entwickelt und getestet (Busert et al., 2018).

Cochrane Library – Cochrane Reviews und laienverständliche Kurzzusammenfassungen auf Englisch

Cochrane Kompakt – laienverständliche Kurzzusammenfassungen einer Vielzahl von Cochrane Reviews auf Deutsch

Campbell Collaboration – Campbell Reviews zu Fragen aus den Bereichen Soziales und Bildung

Epistemonikos – Datenbank systematischer Übersichtsarbeiten zu gesundheitlichen Fragestellungen hinsichtlich Wirksamkeit und einer Vielzahl anderer Fragestellungen in neun Sprachen, darunter Englisch und Deutsch

Box 3: Portale für systematische Übersichtsarbeiten

Baustein 2: Nutzung bestehender wissenschaftlich gesicherter Datenbanken zu Interventionen

Tabelle 1 führt Datenbanken bzw. Register auf, die transparent das bestehende Wissen über einzelne Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung darstellen. Zum Beispiel enthält die niederländische Datenbank neben im strikten Sinne evidenzbasierten Interventionen mit Wirksamkeitsnachweis auch „gut beschriebene“ und „theoretisch fundierte“ Interventionen. In den Niederlanden wird die Implementierung evidenzbasierter oder vielversprechender Interventionen auch dadurch gestärkt, dass die Erfüllung dieser Kriterien die Voraussetzung für eine Förderung der Implementierung einer Intervention durch die dortige nationale Förderungsinstitution ist.

Name der Datenbank und Organisation

Zielsetzung

Bewertungskategorien innerhalb der Datenbanken

BZgA Promising-Practice*

BZgA Best-Evidence*

Grüne Liste
Prävention
, Landespräventionsrat Niedersachsen (Deutschland)

Darstellung des Standes der Entwicklung von ausgewählten Programmansätzen im Bereich der Prävention von Gewalt, Kriminalität, Suchtverhalten und anderen Problemverhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen.

Ergebnisse aus der Bewertung der Konzepts- und Umsetzungsqualität, dem Evaluationsniveau und der Beweiskraft sowie Ergebnisse von Evaluationen führen zu folgender Einteilung:

  • Effektivität theoretisch gut begründet
  • Effektivität wahrscheinlich
  • Effektivität nachgewiesen
  • Auf der Schwelle
  • Keine Aufnahme
 

 

X

Praxisdatenbank,
Kooperations­-
verbund
Gesundheitliche
Chancengleichheit

(Deutschland)

Listung von Angeboten, die sich an den Bedarfen sozial benachteiligter Gruppen orientieren sowie die Förderung des kollegialen Austauschs, Transparenz und Kommunikation unter den Akteurinnen und Akteuren.

Good Practice-Kriterien die für die Qualitätsverbesserung von Projekten genutzt werden können,

  • Konzeption
  • Zielgruppenbezug
  • Setting-Ansatz
  • Multiplikatorenkonzept
  • Nachhaltigkeit
  • Niedrigschwellige Arbeitsweise
  • Partizipation
  • Empowerment
  • Integriertes Handeln
  • Qualitätsmanagement
  • Dokumentation Evaluation
  • Belege für Kosten und Wirksamkeit
 

X

 

Datenbank „Wissen
für gesunde
Lebenswelten“
GKV-Bündnis
**
(Deutschland)

Darstellung der Ergebnisse verschiedener Arten systematischer Übersichtsarbeiten, u. a. zur Wirksamkeit von Interventionen der Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten.

 
  • Uneinheitliche Bewertungskriterien je nach Übersichtsarbeit
  • Perspektivisch ist auch eine Bewertung der methodischen Qualität der Übersichtsarbeiten geplant
 

--

--

Best Practice-Portal, European
Commission
(Europäische Union)

Bereitstellung von bewährten Maßnahmen („Good-“ and „Best-Practices“) im Bereich Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten.

Kriterien für die Bewertung der Angemessenheit:
- Relevanz
- Beschreibung der Interventionscharakteristika
- Evidenz- und theoriebasiert
- Beachtung ethischer Aspekte

Kernkriterien:

  • Wirksamkeit unter kontrollierten und Realbedingung
  • Gerechtigkeit (equity)

Qualifikationskriterien:

  • Transferabilität
  • Nachhaltigkeit
  • Partizipation
  • Intersektorale Zusammenarbeit
 

X

X

* Laut Definition von „BZgA Promising-Practice“ und „BZgA Best-Evidence“ siehe Memorandum „Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung“ (BZgA, 2021). Anmerkung: Die Setzung eines x bedeutet, dass „BZgA Promising-Evidence“ und/oder „BZgA Best-Evidence“ Interventionen in der jeweiligen Datenbank enthalten sind.
** In der Datenbank des GKV-Bündnisses werden keine einzelnen Interventionen dargestellt, sondern es werden Ergebnisse verschiedener Arten von Übersichtsarbeiten, u. a. zur Wirksamkeit von Interventionen der Gesundheitsförderung und Prävention in verschiedenen Lebenswelten (z. B. Kita, Schule, Kommune) vorgestellt. Die Datenbank wird hier zur Vollständigkeit aufgeführt, da sie auch zur Evidenzbasierung von Prävention und Gesundheitsförderung beitragen kann, aber sich von den anderen Datenbanken, die einzelne Interventionstypen bewerten, unterscheidet.

Tabelle 1: Beispiele deutscher, europäischer und internationaler Projektdatenbanken, die Informationen zu vielversprechenden und evidenzbasierten Maßnahmen zur Verfügung stellen

Zukünftig sollten solche Datenbanken – neben transparenten Informationen zur Wirksamkeit einer Maßnahme – auch darüberhinausgehendes wissenschaftlich abgesichertes Wissen zu weiteren Kriterien für evidenzbasierte Entscheidungen wie Akzeptanz, Machbarkeit und Auswirkungen auf gesundheitliche Ungleichheiten berichten.

Manchmal präsentieren diese Datenbanken Hintergrundinformationen für Entscheidungen bezüglich einer Maßnahmenimplementierung in sogenannten „what works“-Papieren. Diese stellen im Gegensatz zu den Datenbankeinträgen für einzelne Maßnahmen das Wissen nicht spezifisch für eine Einzelmaßnahme, sondern für ein Bündel ähnlicher Maßnahmen dar (z. B. Übergewichtsprävention in Schulen). Für eine gelingende Umsetzung von Maßnahmen könnten zudem konkrete Ansprechpartner im deutschsprachigen Raum wichtig sein, die – z. B. über die Datenbanken und darüberhinausgehende Kommunikation − ihre Implementierungserfahrung teilen könnten.

Baustein 3: Einschätzung der Übertragbarkeit einer evidenzbasierten Intervention

Wenn eine Akteurin oder ein Akteur vor Ort über Baustein 1 oder 2 evidenzbasierte oder vielversprechende Maßnahmen identifiziert hat, die im betreffenden Kontext interessant sein könnten, stellt sich die Frage, ob diese Maßnahme tatsächlich mit dieser Wirksamkeitserwartung umsetzbar bzw. übertragbar (transferierbar) ist.

Die konkrete Operationalisierung der Übertragbarkeit (Transferabilität) wird derzeit wissenschaftlich diskutiert, ohne dass ein Konsens besteht. Eine Handreichung des britischen Medical Research Councils dazu ist in Vorbereitung und könnte das Feld weiterbringen (Stand 05.08.2022). Mehrere systematische Reviews (Pfadenhauer et al., 2017; Schloemer & Schroder-Back, 2018) versuchen, aus der wissenschaftlichen Literatur die für Übertragbarkeit von Maßnahmen wichtige Kriterien zu extrahieren. So sollen beispielsweise strukturiert die Charakteristika der im neuen Kontext zu implementierenden Maßnahmen analysiert werden, ebenso wie die Vergleichbarkeit des Kontextes und der Zielgruppe.

Als Instrumente hierfür sind international mehrere Ansätze in Entwicklung, beispielsweise das TRANSFER Framework von Heather Munthe-Kaas aus Norwegen (Munthe-Kaas et al., 2020) sowie der Ansatz der ADAPT Study (Evans et al., 2019). Als ein bereits in Form einer Checkliste in Deutschland getestetes Instrument (Polus et al., 2017) soll hier das CICI-Framework (Pfadenhauer et al., 2017) exemplarisch vorgestellt werden (Tabelle 2): Dargestellt ist die Checkliste zur Transferabilitätsbeurteilung, die auf dem CICI-Framework zur Konzeptionalisierung des Kontextes von Maßnahmen basiert (Polus & Pfadenhauer, 2020, unveröffentlicht).

Intervention

 

Eigenschaften der Intervention

 
  • Welche Eigenschaften der Intervention interagieren mit dem Setting, dem Kontext und der Implementierung?
  • Wie interagieren diese Eigenschaften der Intervention mit dem Setting, dem Kontext und der Implementierung?
 

Kontext
In Abhängigkeit von der betrachteten Intervention sollten alle oder eine Auswahl der sieben Kontextdomänen (d. h. geographischer, epidemiologischer, sozio-kultureller, sozio-ökonomischer, ethischer, legaler und politischer Kontext) durchdacht werden.

Kontext

 
  • Welche Aspekte des Kontexts interagieren mit der Implementierung der Intervention?
  • Wie interagieren diese Aspekte des Kontexts mit der Intervention?
  • Wie interagieren diese Aspekte des Kontexts mit der Implementierung?
 

Implementierung

 

Implementierungstheorie

 
  • Welche theoretischen Ansätze liegen der Implementierung zugrunde?
  • Wie interagiert diese Theorie mit dem Setting und dem Kontext?
  • Wie interagiert diese Theorie mit der Intervention?
 

Implementierungsprozess

 
  • Aus welchen Schritten besteht der Implementierungsprozess?
  • Wie interagiert der Implementierungsprozess mit dem Setting und dem Kontext?
  • Wie interagiert der Implementierungsprozess mit der Intervention?
 

Implementierungsstrategie

 
  • Welche Implementierungsstrategien werden verwendet?
  • Wie interagieren diese Implementierungsstrategien mit dem Setting und dem Kontext?
  • Wie interagieren diese Implementierungsstrategien mit der Intervention?
 

Implementierungsakteure

 
  • Welche Personen und Organisationen sind an der Implementierung beteiligt?
  • Wie interagieren diese Implementierungsakteure mit dem Setting und dem Kontext?
  • Wie interagieren diese Implementierungsakteure mit der Intervention?
 

Implementierungsendpunkte

 
  • Welche Implementierungsendpunkte werden genannt?
  • Wie interagieren diese Implementierungsendpunkte mit den Endpunkten der Intervention?
 

Setting

 

Setting

 
  • Welche Aspekte des Settings interagieren mit der Intervention?
  • Wie interagiert das Setting mit dem Kontext?
  • Wie interagiert das Setting mit der Implementierung?
 

Tabelle 2: Checkliste zur Transferabilitätsbeurteilung (basierend auf CICI-Framework zu Kontext und Implementierung von komplexen Maßnahmen [Pfadenhauer et al., 2017], deutsche Übersetzung, unveröffentlicht)

Baustein 4: Systematisches Ausschöpfen der Möglichkeiten der Wirksamkeitsevaluation von Maßnahmen

Eine solide Wirksamkeitsevaluation erfordert Studiendesigns, die kausale Wirkzusammenhänge möglichst eindeutig nachweisen können (Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis). Prä-Post-Vergleiche von Endpunkten, die nicht unter geeigneten Studienbedingungen durchgeführt, aber häufig als „Evaluation“ bezeichnet werden, halten diesen Anforderungen nicht Stand. Sie können nur hypothesenbildend sein. Eine Wirksamkeitsevaluation braucht immer einen fairen Vergleich, d. h. kontrollierte Bedingungen („Kontrolle“), sei es eine Kontrollsituation, eine Kontrollgruppe oder eine Kontrollperiode.

Wenn eine randomisierte Zuteilung einer Maßnahme unter Alltagsbedingungen nicht möglich ist, gibt es inzwischen diverse Studiendesigns und statistische Verfahren, die auch ohne randomisierte Kontrollen valide Erkenntnisse zur Wirksamkeit generieren können (Craig et al., 2012; Craig et al., 2017; Gerhardus et al., 2015; Trojan & Kolip, 2020). Dazu gehören Studiendesigns wie unterbrochene Zeitreihen, bei denen die Kontrolle über einen Vergleich mit Kontrollzeiträumen in der gleichen Population vorgenommen wird, oder quasi-experimentelle Designs, in denen Kontrollsituationen mittels statistischer Methoden modelliert werden.

Prozessevaluationen können im Rahmen der ersten Implementierung von Maßnahmen und Praxisprojekten wichtige Einblicke in Bezug auf die Umsetzung, Machbarkeit und Akzeptanz einer Intervention (Moore et al., 2015) bieten und sind auch nach einer eventuellen Anpassung von Maßnahmen wichtig; sie ersetzen jedoch keine Wirksamkeitsevaluation.

Baustein 5: Enge Vernetzung von Praxis und Wissenschaft

Aufgrund dieser komplexen Anforderung an den tatsächlichen Nachweis von Wirksamkeit ist bei der Konzipierung und Durchführung von Interventionen und deren Evaluationen eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis unabdingbar. Dies bedeutet konkret, dass die Wissenschaft schon während der Entwicklung einer Maßnahme bzw. bei der Auswahl von Maßnahmen hinzugezogen werden sollte, damit der Praxis von Anfang an eine geeignete Form der Evaluation angeboten werden kann (Veerman & van Yperen, 2007). Um dies zu ermöglichen, sollten Forschungsförderinstitutionen und auch Geldgeber, die die Implementierung von Maßnahmen fördern, ausreichende Mittel für die Durchführung einer aussagekräftigen Evaluation mit Wirksamkeitsnachweis bereitstellen.

Als Beispiele in dieser Richtung können z. B. die Aktivitäten des GKV-Bündnisses für Gesundheit genannt werden, um Krankenkassen bei der externen Evaluation von krankenkassenartenübergreifenden Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten zu unterstützen, wenn sie systematisch zu Wirksamkeitsnachweisen in Evaluationsvorhaben führen. Für die Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Expertise im Bereich Evaluation mit Akteurinnen und Akteuren der Praxis von Prävention und Gesundheitsförderung können darüber hinaus andere bestehende Plattformen genutzt werden, z. B. die Plattform Praxis-Wissenschaft des Zukunftsforums Public Health, der Kooperationsverbund gesundheitliche Chancengleichheit oder ‒ für regionale Netzwerke ‒ die Koordinierungsstellen gesundheitliche Chancengleichheit.

Um die Wirksamkeit auch von unterschiedlichen Maßnahmen im Feld Prävention und Gesundheitsförderung systematisch und nach einheitlichen Standards zu evaluieren und vergleichbar zu machen, müssen Bedingungen erfüllt sein, die sich nicht von selbst etablieren werden. Eine unterstützende Struktur, wie sie im Feld der medizinischen Versorgung zum Beispiel vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) durch den Innovationsfonds bereits seit einigen Jahren mit Erfolg bereitgestellt wird, könnte der notwendigen Entwicklung wirksamer Maßnahmen im Feld der Prävention und Gesundheitsförderung einen wichtigen Impuls geben.

Baustein 6: Strukturierte, standardisierte Sammlung von Rückmeldungen aus der Praxis („practice-based evidence“)

Maßnahmen, die breit und in einem vielfältigen Spektrum von Lebenswelten implementiert werden sollen, müssen praxistauglich sein. Deshalb sollte genau diese Praxistauglichkeit einer Maßnahme bzw. nötige Anpassungen bei ihrer Umsetzung auch strukturiert und standardisiert dokumentiert werden. Datenbanken (siehe Tabelle 1) enthalten viele Maßnahmen, die meist aus der Praxis heraus entwickelt und deren Umsetzung in einem Setting dokumentiert wurde.

Neben den theoretischen Kriterien (z. B. „BZgA Promising practice“ (Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis), die diese Maßnahmen erfüllen, ist es notwendig, die Erfahrungen anderer Praxispartnerinnen und -partner mit den gleichen Maßnahmen zu sammeln und zugänglich zu machen. Das könnte im Rahmen von mit den Nutzerinnen und Nutzern interagierenden Datenbanken oder durch nachgeschaltete Befragungen verwirklicht werden. So könnte die in der internationalen Literatur diskutierte „practice-based evidence“ tatsächlich auch die Evidenzbasierung des gesamten Feldes Prävention und Gesundheitsförderung unterstützen.

Abbildung 1 zeigt die Anforderungen an die beiden oben genannten Kategorien der wissenschaftlichen Absicherung. Dabei gelten alle Kriterien der Stufe 1 bis 3, d. h. Maßnahmen, die als „BZgA Best Evidence“ kategorisiert werden, müssen neben einer guten Beschreibung auch Kriterien für Stufe 2 und natürlich Stufe 3 erfüllen. „BZgA Promising Practice“-Maßnahmen erfüllen dagegen nur die Kriterien der Stufen 1 und 2, nicht aber die der Stufe 3. Wenn mehrere Maßnahmen im Kontext akzeptabel scheinen, sollten immer Maßnahmen, die die Kriterien für „BZgA Best Evidence“ erfüllen, implementiert werden.

Aus der Umsetzung von Maßnahmen mit geringer wissenschaftlicher Absicherung, aber möglichweise hohem Wirkungspotenzial (Stufe 2; „BZgA Promising Practice“), müssen klare Konsequenzen für die Evaluation gezogen werden. Soll eine „BZgA Promising Practice“-Intervention implementiert werden, dann ist es für deren Weiterentwicklung in Richtung „BZgA Best Evidence“-Intervention von großer Bedeutung, dass eine echte Wirksamkeitsevaluation durchgeführt wird.

Die Wirksamkeitsevaluation einer Maßnahme braucht immer einen fairen Vergleich der Untersuchungssituation mit keiner oder einer anderen Maßnahme – wissenschaftlich ausgedrückt eine Kontrolle, sei es eine Kontrollsituation, Kontrollgruppe oder eine Kontrollperiode. Wenn ein fairer Vergleich durch randomisierte Zuteilung einer Maßnahme unter Alltagsbedingungen nicht möglich ist, gibt es inzwischen diverse Studiendesigns und statistische Verfahren, die trotzdem gute Vergleichssituationen – z. B. nicht randomisierte Kontrollgruppen – und somit durchaus valide Erkenntnisse zur Wirksamkeit generieren können (Craig u. a., 2012; Craig u. a., 2017; Gerhardus, Rehfuess & Zeeb, 2015; Trojan & Kolip, 2020b). Dazu gehören Studiendesigns wie unterbrochene Zeitreihen, bei denen die Kontrolle über einen Vergleich mit Kontrollzeiträumen in der gleichen Population vorgenommen wird, oder quasi-experimentelle Designs, in denen Kontrollsituationen mittels statistischer Methoden modelliert werden. Die Evaluationen sollten immer in Kooperation mit Expertinnen und Experten erfolgen, die Erfahrung in der Umsetzung solcher Designs haben.

Mehr Hinweise dazu, was notwendig ist für eine Umsetzung von evidenzbasierten Entscheidungen aus einer übergeordneten Perspektive bzw. für die Umsetzung von evidenzbasierten Maßnahmen in der Prävention und Gesundheitsförderung, gibt der Leitbegriff Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 2: Umsetzung.

Literatur:

Busert, L. K., Mutsch, M., Kien, C., Flatz, A., Griebler, U., Wildner, M., Stratil, J. M. & Rehfuess, E. A. (2018). Facilitating evidence uptake: development and user testing of a systematic review summary format to inform public health decision-making in German-speaking countries. Health Res Policy Syst, 16(1), 59. doi.org/10.1186/s12961-018-0307-z.

BZgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2021). Memorandum „Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung“. Zugriff am 05.08.2022 unter www.bzga.de/forschung/memorandum-evidenzbasierung.

Craig, P., Cooper, C., Gunnell, D., Haw, S., Lawson, K., Macintyre, S., Ogilvie, D., Petticrew, M., Reeves, B., Sutton, M. & Thompson, S. (2012). Using natural experiments to evaluate population health interventions: new medical research council guidance. J Epidemiol Community Health, 66(12), 1182−1186. doi.org/10.1136/jech-2011-200375.

Craig, P., Katikireddi, S. V., Leyland, A. & Popham, F. (2017). Natural experiments: an overview of methods, approaches, and contributions to public health intervention research. Annu Rev Public Health, 38, 39−56. doi.org/10.1146/annurev-publhealth-031816-044327.

Evans, R. E., Craig, P., Hoddinott, P., Littlecott, H., Moore, L., Murphy, S., O'Cathain, A., Pfadenhauer, L., Rehfuess, E., Segrott, J. & Moore, G. (2019). When and how do 'effective' interventions need to be adapted and/or re-evaluated in new contexts? The need for guidance. J Epidemiol Community Health, 73(6), 481−482. doi.org/10.1136/jech-2018-210840.

Gerhardus, A., Rehfuess, E. & Zeeb, H. (2015). Evidence-based health promotion and prevention in settings: which types of study designs are needed? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 109(1), 40−45. doi.org/10.1016/j.zefq.2014.12.002.

Guyatt, G. H., Oxman, A. D., Vist, G. E., Kunz, R., Falck-Ytter, Y., Alonso-Coello, P., Schunemann, H. J. & Group, G. W. (2008). GRADE: an emerging consensus on rating quality of evidence and strength of recommendations. BMJ, 336(7650), 924−926. doi.org/10.1136/bmj.39489.470347.AD.

Higgins, J., Thomas, J., Chandler, J., Cumpston, M., Li, T., Page, M. & Welch, V. (2019). Cochrane handbook for systematic reviews of interventions (Vol. 6). Zugriff am 5.8.2022 unter https://training.cochrane.org/handbook/current.

Lewin, S., Booth, A., Glenton, C., Munthe-Kaas, H., Rashidian, A., Wainwright, M., Bohren, M. A., Tunçalp, Ö., Colvin, C. J., Garside, R., Carlsen, B., Langlois, E. V. & Noyes, J. (2018). Applying GRADE-CERQual to qualitative evidence synthesis findings: introduction to the series. Implementation Science, 13(1), 2. doi.org/10.1186/s13012-017-0688-3.

Moore, G. F., Audrey, S., Barker, M., Bond, L., Bonell, C., Hardeman, W., Moore, L., O'Cathain, A., Tinati, T., Wight, D. & Baird, J. (2015). Process evaluation of complex interventions: Medical Research Council guidance. Bmj, 350, h1258. doi.org/10.1136/bmj.h1258.

Munthe-Kaas, H., Nøkleby, H., Lewin, S. & Glenton, C. (2020). The TRANSFER Approach for assessing the transferability of systematic review findings. BMC Medical Research Methodology, 20(1), 11. doi.org/10.1186/s12874-019-0834-5.

NICE (2014). Developing NICE guidelines: the manual. Zugriff am 5.8.2022 unter www.nice.org.uk/process/pmg20/resources/developing-nice-guidelines-the-manual-pdf-72286708700869.

Pfadenhauer, L., Gerhardus, A., Mozygemba, K., Lysdahl, K. B., Booth, A., Hofmann, B., Wahlster, P., Polus, S., Burns, J., Brereton, L. & Rehfuess, E. (2017). Making sense of complexity in context and implementation: the Context and Implementation of Complex Interventions (CICI) framework. Implement Sci, 12(1), 21. doi.org/10.1186/s13012-017-0552-5.

Polus, S., Pfadenhauer, L., Brereton, L., Leppert, W., Wahlster, P., Gerhardus, A. & Rehfuess, E. (2017). A consultation guide for assessing the applicability of health technologies: a case study. Int J Technol Assess Health Care, 33(5), 577−585. doi.org/10.1017/s0266462317000745.

Rehfuess, E. A., Stratil, J. M., Scheel, I. B., Portela, A., Norris, S. L. & Baltussen, R. (2019). The WHO-INTEGRATE evidence to decision framework version 1.0: integrating WHO norms and values and a complexity perspective. BMJ Global Health, 4 (Suppl 1), e000844. doi.org/10.1136/bmjgh-2018-000844.

Schloemer, T. & Schroder-Back, P. (2018). Criteria for evaluating transferability of health interventions: a systematic review and thematic synthesis. Implement Sci, 13(1), 88. doi.org/10.1186/s13012-018-0751-8.

Shea, B. J., Reeves, B. C., Wells, G., Thuku, M., Hamel, C., Moran, J., Moher, D., Tugwell, P., Welch, V., Kristjansson, E. & Henry, D. A. (2017). AMSTAR 2: a critical appraisal tool for systematic reviews that include randomised or non-randomised studies of healthcare interventions, or both. BMJ, 358, j4008. doi.org/10.1136/bmj.j4008.

Trojan, A. & Kolip, P. (2020). Evidenzbasierung in der Prävention und Gesundheitsförderung. In M. Tiemann & M. Mohokum. Prävention und Gesundheitsförderung. Springer Nature: Heidelberg (S. 1−24). doi.org/10.1007/978-3-662-55793-8_122-1.

Veerman, J. W. & van Yperen, T. A. (2007). Degrees of freedom and degrees of certainty: a developmental model for the establishment of evidence-based youth care. Eval Program Plann, 30(2), 212−221. doi.org/10.1016/j.evalprogplan.2007.01.011.

World Health Organization (2014). WHO handbook for guideline development, 2nd ed. World Health Organization. https://apps.who.int/iris/handle/10665/145714.

Weiterführende Quellen:

Antes, G., Kunzweiler, K. & Töws, I. (2016). Das medizinische Dilemma der Prävention – Evidenz, Nutzen, Chancen und Risiken. In H. Rebscher & S. Kaufmann (Hrsg.). Präventionsmanagement in Gesundheitssystemen. Medhochzwei: Heidelberg (S. 31–44).

Bödeker, W. & Kreis, J. (Hrsg.) (2006). Evidenzbasierung in Gesundheitsförderung und Prävention. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven.

Bödeker, W. & Moebus, S. (2019). Studiendesigns zur Wirkungsevaluation in Prävention und Gesundheitsförderung – Die Bedeutung interner und externer Validität für die Evidenzbasierung in Lebenswelten. Gesundheitswesen (Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes [Germany]). doi.org/10.1055/a-0832-2220.

Gerhardus, A., Rehfuess, E. & Zeeb, H. (2015). Evidenzbasierte Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung: Welche Studiendesigns brauchen wir? Z.Evid, Fortb. Qual.Gesundh.wesen (ZEFQ) 109:40–45.

Gerhardus, A. (2015). Evidenzbasierung in der bevölkerungsbezogenen Primärprävention und Gesundheitsförderung. Gesundheitswesen 77 - A198. doi.org/10.1055/s-0035-1563154.

Gerhardus, A. (2010). Bessere Gesundheitsversorgung durch geprüfte Informationen. In H. Wenzel (Hrsg.). Evidence-based public health. Hans Huber, Bern (S. 17–29).

Haas, S., Breyer, E., Knaller, C., Weigl, M. (2013a). Aufbereitung von Evidenz zu Gesundheitsförderung. Gesundheit Österreich/Geschäftsbereich Fonds Gesundes Österreich, Wien.

Haas, S., Breyer, E., Knaller, C. & Weigl, M. (2013b). Evidenzrecherche in der Gesundheitsförderung. Gesundheit Österreich/Geschäftsbereich Fonds Gesundes Österreich, Wien.

Kliche, T., Koch, U., Lehmann, H. & Töppich, J. (2006). Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung. Probleme und Lösungsansätze zur kontinuierlichen Qualitätsverbesserung der Versorgung. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung − Gesundheitsschutz 40:141–150. doi.org/10.1007/s00103-005-1216-1

Kolip, P. (2006). Evaluation, Evidenzbasierung und Qualitätsentwicklung. Prävention Gesundheitsförderung 1:234–239. doi.org/10.1007/s11553-006-0042-0.

Trojan, A. (2012). Von dem Messen und Rechnen: Die Landschaft beschreiben. Überlegungen für eine Klassifizierung und einheitliche Terminologie von Gesundheitsförderungsintervention als Voraussetzung für Evaluation und Evidenzbildung. In: Robert Koch Institut, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Hrsg.). Evaluation komplexer Interventionsprogramme in der Prävention: Lernende Systeme, lehrreiche Systeme? Beiträge zur Gesundheitsbeichterstattung des Bundes. RKI, Berlin, S. 21−32.

Internetadressen:

AMSTAR: www.amstar.ca

AWMF online. Das Portal der wissenschaftlichen Medizin: www.awmf.org

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): www.awmf.org

Best Practice-Portal, European Commission: https://webgate.ec.europa.eu/dyna/bp-portal/

Blueprints for Healthy Youth Development: www.blueprintsprograms.org

Campbell Collaboration: https://campbellcollaboration.org

Cochrane: Zuverlässige Evidenz. Informierte Entscheidungen. Bessere Gesundheit: www.cochrane.org/de/evidence

Cochrane Library: www.cochranelibrary.com

European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA): www.emcdda.europa.eu/best-practice/xchange

Epistemonikos: www.epistemonikos.org

Evidence to Decision (EtD) Framework: www.decide-collaboration.eu/evidence-decision-etd-framework

GKV-Bündnis für Gesundheit/Datenbank »Wissen für gesunde Lebenswelten«: www.gkv-buendnis.de/forschung-im-buendnis/datenbank-wissen-fuer-gesunde-lebenswelten

GKV-Bündnisses für Gesundheit/Publikationen: www.gkv-buendnis.de/publikationen

Grüne Liste Prävention: www.gruene-liste-praevention.de/nano.cms/datenbank/information

Kooperationsverbund gesundheitliche Chancengleichheut: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de

Loket Gezond Leven: www.loketgezondleven.nl

NICE – National Institute of Health and Care Exellence:www.nice.org.uk

Public Health Agency of Canada: www.canada.ca/en/public-health.html

Ständige Impfkommission: www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/stiko_node.html

United States Preventive Services Task Force: https://uspreventiveservicestaskforce.org/uspstf/home

WHO-Publications: www.who.int/publications/i?publishingoffices=c09761c0-ab8e-4cfa-9744-99509c4d306b

Verweise:

Akteure und Strukturen der Gesundheitsförderung und Prävention, Aus- und Weiterbildung in Gesundheitsförderung und Prävention, Capacity Building / Kapazitätsentwicklung, Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis