Erklärungs- und Veränderungsmodelle 3: Persuasion, Diffusion, Marketing und Medienanwaltschaft

Doreen Reifegerste , Peter Franzkowiak , Annette C. Seibt

(letzte Aktualisierung am 15.10.2021)

Zitierhinweis: Reifegerste, D., Franzkowiak, P. & Seibt, A. C. (2021). Erklärungs- und Veränderungsmodelle 3: Persuasion, Diffusion, Marketing und Medienanwaltschaft. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i014-2.0

Zusammenfassung

In diesem Leitbegriff werden vier Modelle vorgestellt, die vorrangig für die kommunikative Umsetzung von Interventionen und Kampagnen von Bedeutung sind. Sie entstammen der Psychologie, der Soziologie, der Werbeforschung sowie der Kommunikationswissenschaft und Betriebswirtschaft. Im Gegensatz zu den Erklärungs- und Veränderungsmodellen I und II sind die hier vorgestellten Modelle weniger individuumsbezogen und berücksichtigen stärker das soziale Umfeld und die strukturellen Rahmenbedingungen der Zielgruppen. Ausgehend von den zentralen Einflussfaktoren und den Mechanismen, werden Konsequenzen für die Gesundheitsprogramme formuliert.

Schlagworte

Persuasion, Gesundheitskommunikation, Diffusionsforschung, Soziales Marketing, Media Advocacy


Hintergrund

Die Leitbegriffe „Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1 und 2“ informieren über historische und aktuelle – ursprünglich primär der Psychologie zuzuordnende – Modelle und Theorien. Diese werden v. a. in der Krankheitsprävention genutzt, um Gesundheits- und Risikoverhaltensweisen bei Individuen und Gruppen zu erklären und vorherzusagen (Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung) oder um die Stufen, Phasen und Schritte von Planungs- und Veränderungsprozessen zu ergründen und zu operationalisieren (Erklärungs- und Veränderungsmodelle 2: Theoriebasierte Interventionsplanung). Jedes Modell beschreibt aus seiner Perspektive, wie und unter welchen Bedingungen Einflussfaktoren des Gesundheitsverhaltens beim Individuum zusammenwirken und wie diese ein Zielkriterium beeinflussen (z. B. die Absicht, mit dem Rauchen aufzuhören, die Planung einer gezielten Ernährungsumstellung im Alltag, die Umsetzung der Schutzmotivation gegenüber sexuell übertragbaren Infektionen in konsequentes persönliches Vorsorgehandeln).

In diesem Leitbegriff werden vier Modelle vorgestellt, die vorrangig für die kommunikative Umsetzung von Interventionen und Kampagnen von Bedeutung sind. Mit Ausnahme des ersten Modells („Überzeugende/Persuasive Kommunikation“) entstammen sie nicht primär dem Theorie- und Forschungsrahmen der Psychologie, sondern aus der Soziologie („Diffusion von Innovationen“), der Markt-/Werbeforschung und der Betriebswirtschaft („Soziales Marketing“) oder der politisch-motivierten, aufklärenden Kommunikationswissenschaft („Medienanwaltschaft“). Ein Unterscheidungsmerkmal der letzten drei Modelle gegenüber dem ersten Modell ist auch, dass sie den bis heute vorherrschenden Individuumsbezug der klassischen (Risiko-)Prävention überschreiten. Im US-amerikanischen Sprachgebrauch fallen sie daher unter die Kategorie „Social ecological theories“, da sie auch das soziale Umfeld und die strukturellen Rahmenbedingungen von Zielgruppen berücksichtigen (Ökologische und humanökologische Perspektive).

Die Modelle zielen somit auf die Erklärung und Nutzbarmachung all jener Mechanismen, die zu einer (im Idealfall gesundheitsförderlichen) Veränderung von kommunikativen, sozialen oder wirtschaftlichen Umwelten führen. Sie zielen in ihren jeweiligen Schwerpunkten (Persuasion, Diffusion, Marketing und Interessenvertretung) vorrangig auf soziale, ökologische oder mediale Determinanten von Gesundheit, die sich dann wünschenswerterweise auf spezifisches Risiko- bzw. Gesundheitsverhalten von sozialen Gruppen und damit auch auf Einzelne auswirken.

Modell der persuasiven Kommunikation

Das Modell der persuasiven (d. h. überzeugenden) Kommunikation beschreibt die Prozesse und Komponenten, mit deren Hilfe Menschen neue Informationen verarbeiten und Entscheidungen fällen. Von besonderem Interesse ist die Frage, wie Menschen – auch bei einer großen Fülle – Informationen verarbeiten und wie sie angesichts von Widersprüchlichkeiten zu einer Entscheidung kommen. Für die Gesundheitsförderung ist relevant, wie sich diese Informationsverarbeitungsschritte und Entscheidungsfindungsstufen für unterschiedliche Kampagnen beschreiben, bewusst gestalten und evaluieren lassen.

Das Kommunikationsmodell wurde Mitte der 1980er Jahre vom US-amerikanischen Sozialpsychologen W. J. McGuire entwickelt. Es ist Teil der Theorien der Informationsverarbeitung aus dem Bereich der Kognitiven Psychologie. Beim Prozess der Verhaltensänderung durch Überzeugungskampagnen handelt es sich um die idealtypische Stufenabfolge der einzelnen Schritte einer Kampagnenwirkung (Gesundheitskommunikation und Kampagnen).

Ähnliche Differenzierungen nach unterschiedlichen Verarbeitungsstufen der Kommunikation finden sich auch in Systematiken zur Erreichbarkeit spezifischer Zielgruppen sowie in Modellen zur Erhöhung der Gesundheitskompetenz (Reifegerste, 2020). Auch wenn in der Praxis nicht immer eine stringente Abfolge der Stufen vorausgesetzt werden kann, gehen alle diese Ansätze davon aus, dass je nach erreichter Stufe unterschiedliche Kommunikationsstrategien erforderlich sind. Während beispielsweise auf den ersten Stufen der Erreichbarkeit vor allem die Art des Kanals und technische Aspekte im Vordergrund stehen, spielen für die Akzeptanz und die nachhaltige Verhaltensänderung der späteren Stufen der Inhalt der Botschaft und motivationale Aspekte eine größere Rolle (ebd.).

Als Modell der persuasiven Kommunikation wurde eine übersichtliche und empirisch fundierte Matrix entwickelt (Abb. 1). Darin wird der Kommunikationsoutput in anfangs 12, mittlerweile 13 Planungsschritten mit dem Kommunikationsinput mit seinen 5 Komponenten sehr differenziert verknüpft. Die Matrix dient als Grundlage für die Planung von Informations-, Einstellungs- und Verhaltensänderungsprogrammen.

Kommunikationsoutput

Kommunikationsinput

= Planungsschritte / Grobziele
Empfängerinnen / Empfänger müssen ...

Quelle der
Information

Botschaft

Kanal

Empfänger

Ziele

1. der Botschaft ausgesetzt sein

 

 

 

 

 

2. ihr Aufmerksamkeit schenken

 

 

 

 

 

3. ihr Interesse zeigen

 

 

 

 

 

4. sie verstehen

 

 

 

 

 

5. vorhandene Kognitionen abrufen

 

 

 

 

 

6. Fähigkeiten erwerben

 

 

 

 

 

7. Einverständnis zeigen = Einstellung ändern

 

 

 

 

 

8. die Veränderung speichern

 

 

 

 

 

9. relevantes im Gedächtnis finden

 

 

 

 

 

10. eine Entscheidung fällen

 

 

 

 

 

11. Handlung ausführen, sich verhalten

 

 

 

 

 

12. konsolidieren

 

 

 

 

 

Abb.1: Die Matrix der überzeugenden Kommunikation (nach McGuire, 2012)

Die 12 Output- oder Planungsvariablen werden als aufeinander folgende Schritte bzw. Stufen beschrieben, die durchlaufen werden müssen, wenn Menschen Informationen verarbeiten bzw. wenn eine Kommunikationskampagne einen verändernden Einfluss haben soll. Für jede Phase sind angemessene Maßnahmen vorzusehen. Die ersten sieben Stufen enden idealerweise mit einer Veränderung der Einstellung. Dafür müssen Personen zunächst der Botschaft ausgesetzt sein (1. Stufe), ihr Aufmerksamkeit schenken (2. Stufe), weitergehendes Interesse zeigen (3. Stufe) und sie verstehen (4. Stufe). In der 5. Stufe geschieht ein Abrufen und Erzeugen von verwandten, bereits gespeicherter Kognitionen. Falls neue Fertigkeiten erforderlich sind, müssen sie auf der 6. Stufe gelernt werden, um sich auf der 7. Stufe mit den Botschaftsinhalten einverstanden zu zeigen, wodurch mit einer Einstellungsveränderung gerechnet wird. Der Begriff Einstellung ist hier als Beurteilung eines (gedanklichen) Objekts definiert.

Häufig enden Gesundheitsprogramme auf der 7. Stufe, der Einstellungsveränderung. Auf dieser Ebene wird dann unter Umständen fälschlicherweise und verfrüht der Schluss gezogen, dass sich das eigentliche Verhalten ebenfalls geändert habe oder fast zwingend eine Änderung eintritt. Für eine längerfristige Einstellungsänderung sind jedoch noch die kognitiven und handlungsorientierten Stufen 8 bis 12 zu durchlaufen. Tatsächliches und langfristiges Ausüben des neuen Verhaltens geschieht erst durch Konsolidierung auf der 12. Stufe. Dabei wird das neue Handeln in das eigene Überzeugungssystem eingebaut. Hier spielt das soziale Umfeld eine wichtige Rolle, wenn es durch Rückmeldung das neue Verhalten unterstützt und weiter konsolidiert.

Damit das Modell als Planungshilfe für Gesundheitsprogramme dienen kann, sollte geklärt werden: Wer sagt Was mit Welchem Medium zu Wem mit Welchem (Verhaltens-)Ziel? Mit diesen fünf W-Fragen, der sogenannten Laswell-Formel (Arens, 2021) sind die Kommunikations-Inputvariablen angesprochen – die zweite, horizontale Achse der Matrix. Sie sollen bei der Planung auf jeder der 12 Stufen bewusst mitbearbeitet werden (vgl. Abb. 1):

  • Quelle der Information, Sender: Personen, eine Gruppe oder Organisation, von denen die Botschaft kommt; für die Überzeugungsfähigkeit der Kommunikation spielen hier Aspekte wie Glaubwürdigkeit, Attraktivität sowie soziale Stellung oder Macht eine Rolle (siehe hierzu auch die Sozial-kognitive Theorie; Bandura, 2004).
  • Botschaft: Inhalt und Form, Wortwahl, Ansprache durch Furchtappelle oder Humor; für manche Bevölkerungsgruppen z. B. in Form von Bildern, Comics o. Ä.
  • Kanal: Das Medium, durch das die Botschaft vermittelt wird (z. B. Broschüren, TV, Radio, Zeitungen, Briefe, E-Mail, soziale Medien und mobile Technologien).
  • Empfänger: Zielgruppe, differenziert nach Geschlecht, Alter, Ethnizität, augenblicklichen Einstellungen und Verhalten etc.
  • Ziele: Hier sollen detaillierte Einzelziele für jede Outputstufe formuliert werden (z. B. Gesundheitskompetenz, Empowerment, Gesundheitsverhalten, angemessene Blutzuckerwerte o. Ä., Adhärenz bei der Medikamenteneinnahme).

Das Modell liefert eine gute Übersicht über die Vielfalt der Komponenten, die bei der Entwicklung von Kommunikationsmaßnahmen zu beachten sind. Mehrere große Interventionsstudien in den USA (zur AIDS-Prävention, Verkehrs- und Nahrungsmittelsicherheit, Förderung des Nichtrauchens u. a.) haben sich auf dieses Modell gestützt. Die dabei gemachten Erfahrungen führten zu einem besseren Verständnis der Einsatzmöglichkeiten und Grenzen in Bezug auf die Ziele, die Reichweite und die zu erreichende Wirksamkeit verschiedener Kommunikationsmaßnahmen. Insbesondere durch die kritische Reflektion über die Ziele auf jeder Verarbeitungsstufe kann deutlich werden, dass häufig nicht alle Personen gleichzeitig mit einer Kampagne erreicht werden können oder ein Prozess (beispielweise bei der Sexualaufklärung oder etwa der Unfallprävention bei Kindern) mit jeder Generation neu durchlaufen werden muss.

Die BZgA hat seit Ende der 1980er Jahre, beginnend mit „Gib AIDS keine Chance“, einen Großteil ihrer Mehr-Ebenen-Kampagnen (AIDS-Aufklärung und HIV-Prävention, Familienplanung, Suchtprävention, Gesundheitsförderung im Jugendalter, Organspende) unter Rückgriff auf McGuires Phasenmodell konzipiert und evaluiert. Dabei zeigt sich, dass es bei manchen Kampagnen eher darum geht Aufmerksamkeit für ein Thema zu erzeugen, während bei anderen eher der Wissenszuwachs oder eine Verhaltensänderung im Vordergrund steht. Zum Teil geschieht dies in Verbindung mit der Diffusionstheorie von Everett Rogers. Abb. 2 verdeutlicht das gegenwärtige Kommunikationsmodell am Beispiel der Kampagne „Alkohol – Kenn dein Limit“.

Diffusionstheorie – Verbreitung von Innovationen

Die Diffusionstheorie erklärt, wie Innovationen – neue Produkte, Konzepte und Ideen – auf relativ vorhersagbare, mehrstufige Weise in eine Gesellschaft oder (Sub-)Kultur Eingang finden und unter welchen Bedingungen sie akzeptiert werden. Diffusion ist ein Prozess, über den eine Innovation zwischen Mitgliedern eines sozialen Systems kommuniziert und akzeptiert wird. Typische Fragestellungen mit Gesundheitsbezug wären zum Beispiel: Durch welche Mechanismen setzen sich neue Ernährungsgewohnheiten durch? Wie wird Kondombenutzung als HIV-Schutzverhalten akzeptiert? Wie erklärt sich die rapide und massenhafte Verbreitung von „Gesundheits-Apps“, „Smartwatches“ oder Fitness-Armbändern etwa mit Schrittzählern und Kalorienverbrauchs-Feedback? (Social Media/Gesundheitsförderung mit digitalen Medien).

Die erstmals zu Beginn der 1960er Jahre vom US-Soziologen E. M. Rogers systematisch zusammengefasste Theorie beschreibt Gesetzmäßigkeiten, die angeben, unter welchen Bedingungen Menschen Neuerungen annehmen. Innovationen können dabei neue Ideen, Konzepte (z. B. Kalorienzählen), Verhaltensweisen oder technische Geräte (z. B. Smartphones, neue Abrechnungssysteme für Krankenkassen) sein. Sie hat seitdem über die Soziologie hinaus in weiteren Disziplinen, darunter den Gesundheitswissenschaften und der Kommunikationswissenschaft, international Anwendung gefunden. Durch die Kenntnis der Theorie können gesundheitliche Innovationen gezielter beeinflusst oder angestoßen werden. Ihre Konstrukte schaffen ein Erklärungsgerüst dafür,

  • welche Menschen an der Spitze einer neuen sozialen Bewegung stehen oder die neueste Gesundheitswelle aus- oder mitmachen (z. B. Joggen, fettärmer essen, nicht [mehr] rauchen, Fitnesstraining betreiben, „Self-tracking“ über sogenannte Health Apps), während andere sich erst später entsprechend verhalten oder die möglicherweise erst durch Vorschriften gezwungen werden, sich in der nunmehr mehrheitlich akzeptierten Art und Weise zu verhalten;
  • welche Charakteristika das „Neue“ aufweisen muss, um mit größerer Wahrscheinlichkeit in einer Bevölkerung akzeptiert zu werden.

Die Diffusionstheorie unterscheidet Menschen danach, ob sie Neuerungen eher früh oder spät akzeptieren. Für diesen Prozessverlauf des „Adoptierens“ werden fünf empirisch abgrenzbare idealtypische Kategorien von Menschen unterschieden (vgl. Abb. 3): Innovatorinnen und Innovatoren/Erstannehmende („Pioniere“), Frühe Adoptierende/Frühannehmende („Vorreiterinnen und Vorreiter“), Frühe Mehrheit, Späte Mehrheit, Nachzüglerinnen und Nachzügler.

Bei Menschen, die Neuerungen sofort annehmen oder ausprobieren wollen, sogenannte Innovatorinnen und Innovatoren, handelt es sich um eine Art „Pioniergruppe“, die zahlenmäßig eher klein ist und den Ausgangspunkt für die Innovationsdiffusion darstellt. Frühe Adoptierende greifen die Idee auf und geben – als Meinungsführende – in ihrer direkten Umgebung den Anstoß für Veränderungen. Sie haben eine vorbildgebende Funktion. Die frühe Mehrheit erkennt die Vorteile der Veränderung und schließt sich – zeitlich nachfolgend – der neuen Bewegung an. Die späte Mehrheit übernimmt die Neuerung dann, wenn ihr eine Zurückhaltung gegenüber den Veränderungen zunehmend Nachteile bringt. Nachzüglerinnen und Nachzügler sind dagegen meist nur gegen starken Widerstand zur Veränderung bereit.

Aufgrund der unterschiedlichen Motivationsbasis – von einer vorwiegend intrinsisch motivierten Einstellung der Innovatorinnen und Innovatoren zur eher extrinsisch motivierten späten Mehrheit – ist es naheliegend, für die verschiedenen Typen und Teilgruppen jeweils andere Motivierungsstrategien zu wählen. Diffusion läuft in einem mindestens zweistufigen Prozess ab: Für frühe Adoptierende sind Kommunikationswege außerhalb des nahen sozialen, familiären oder kollegialen Netzes wichtige Informationsquellen; für spätere Adoptierende ist es eher das direkte soziale Umfeld, das informiert, Innovationen vorführt und annehmbar macht.

Entscheidenden Einfluss auf den Informationsstand der „späteren“ reagierenden Zielgruppen bezüglich einer Innovation haben persönliche Vorbilder, das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk sowie die Kommunikationsstrukturen innerhalb des Netzwerks. Ein besonderer Akzent liegt auf dem Ideen- und Wissensaustausch unter Gleichgesinnten, d. h. zwischen Menschen mit ausgeprägten Ähnlichkeiten in Bildung, Sprache, Status und Wertvorstellungen. Meinungsführende der eigenen sozialen Gruppe (Peers) und deren Verhalten sind die treibende Kraft einer Veränderung. Als potenzielle „Change agents“ stellen sie jene Informationen bereit oder leben sie vor, was die Entscheidung der späteren Adoptierenden zugunsten einer Innovation fördern, begleiten und stabilisieren kann.

Zusätzlich zur Kategorisierung von Menschengruppen entsprechend ihrer „Adoptionsgeschwindigkeit“ spielen die Merkmale der Neuerungen selbst eine Rolle. Hier unterscheidet die Diffusionstheorie fünf Attribute: der relative Vorteil, die Vereinbarkeit oder Kompatibilität, die Komplexität, die Erprobbarkeit, die Beobachtbarkeit bzw. Wahrnehmbarkeit.

  • Unter relativer Vorteil ist zu verstehen, dass etwas Neues im Vergleich zum Bisherigen besser ist oder Vorteile hat, obwohl es möglicherweise auch neue Nachteile mit sich bringen könnte. Die Balance sollte zugunsten des Neuen ausfallen, um die Neuerung akzeptabler zu machen.
  • Die Vereinbarkeit betrifft die Frage, inwiefern sich etwas Neues mit bestehenden Normen und Werten, früheren Erfahrungen oder aktuellen Bedürfnissen vereinbaren lässt. Beispiele sind die Namensgebung von Kampagnen, das Aussehen oder die Handhabbarkeit des Produkts, aber auch die moralische, religiöse oder gesellschaftliche Akzeptanz des Neuen.
  • Die Komplexität zeigt an, ob eine Innovation einfach oder schwierig zu verstehen oder zu benutzen ist. Die Diffusionsforschung zeigt, dass dieses Attribut je nach sozioökonomischem Status die Adoptionsrate sehr unterschiedlich beeinflussen kann.
  • Unter Erprobbarkeit wird verstanden, dass eine Innovation in Einheiten eingeteilt und so in kleinen Schritten „angetestet“ werden kann.
  • Beobachtbarkeit ist der Grad, mit dem das Ergebnis einer Innovation für andere wahrnehmbar ist. Die joggende oder radfahrende Nachbarin, der Arbeitskollege mit einer Fitness-App sind Beispiele dafür, dass diese Innovation von anderen leichter beobachtet werden kann als etwa ihre Ernährungs- oder Sexualgewohnheiten.

Im Bereich der Public Health und der Gesundheitskommunikation wurde die Diffusionstheorie weltweit auch in Programmen zur Krebsprävention, zur internationalen Verbreitung von Diabetesvorsorge-Programmen, in der Tabakkontrolle und Förderung des Nichtrauchens, der Propagierung regelmäßiger körperlicher Bewegung und anderen Interventionen zur Verminderung von Risikofaktoren sowie in jüngster Zeit auch in neuen Feldern wie e-Health, mHealth, Healthcare Information Systems und Telemedizin erfolgreich eingesetzt (Karnowski, 2019; Social Media/Gesundheitsförderung mit digitalen Medien). Die Theorie ist besser nutzbar für die Übernahme neuen Verhaltens als für die Beendigung bereits eingeschliffener (schädigender bzw. riskanter) Verhaltensmuster.

Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht wird seit einigen Jahren kritisiert, dass ein Großteil der empirischen Evidenz, insbesondere die Adopter-Kategorien und ihre angenommene Verteilung, nicht explizit aus Public Health-Fragestellungen oder -Populationen entwickelt worden ist bzw. (noch) nicht entsprechend neu vermessen oder angepasst wurde. Auch seien Merkmale und Strategien der Partizipation und Teilhabe (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger) im Modell eher nachrangig behandelt. Der Fokus auf Individuen und deren Verhaltensänderung kann unter Umständen „Blaming the victim“-Effekte befördern. Gleichzeitig könnte mit dem Modell aber auch der Blick auf die Ressourcen oder Unterstützung im sozialen Umfeld, die Aktivierung der Nachzügler sowie die isolierten Personen gelenkt werden.

Bei der Einteilung von Menschen(-gruppen) entlang der fünf idealtypischen Kategorien muss nach sozio-demographischen Faktoren wie Alter und persönlichen, sozialen und finanziellen Ressourcen differenziert werden. Strukturelle Barrieren, mangelnde Ressourcen (Geldknappheit, Analphabetismus, Überforderung) oder auch Produkte und Maßnahmen, die von den Nutzenden als „problematisch“ bewertet werden, können für ein Nichtannehmen verantwortlich sein. Insbesondere dann, wenn sich die Diffusion spät, also kurz vor oder beim Erreichen der Nachzüglerinnen und Nachzügler, stark verlangsamt oder dort endet, besteht die Gefahr, dass dies zu einer neuen Chancenungleichheit (Gesundheitliche Chancengleichheit) führt, die mit einer zusätzlichen gesellschaftlichen Ausgrenzung einhergehen kann.

Gesundheits- und Präventionsmarketing

Gesundheits- und Präventionsmarketing beschreibt einen Ansatz, bei dem die Methoden des klassischen (d. h. kommerziellen) Marketings für Ziele der Gesundheitsförderung und der Prävention angewendet werden. „Indem positive Emotionen und Motive angesprochen und in uns geweckt werden“ (Scherenberg, 2017, S. 7), sollen Ziel- und Risikogruppen zu gesundheitsförderlichem Verhalten motiviert werden (statt sie mit negativen Emotionen durch Furchtappelle abzuschrecken) (Gesundheitskommunikation und Kampagnen). Durch strategisches Planen einer Kampagne oder eines Projekts, das sich an den Interessen einer Ziel- oder Risikogruppe ausrichtet, soll die Akzeptanz für eine gesundheitsbezogene Idee oder Verhaltensweise erhöht werden. Gesundheitsmarketing ist daher „ein strategisches Kommunikationskonzept, das Programme bekannt macht und anpreist, und das Organisationen dazu motiviert, Strukturen und Prozesse zu ändern, sowie Personen, sich gesundheitsschützend zu verhalten. Die risikomindernden oder gesundheitsförderlichen Ziele und Inhalte werden wie Produkte des Profit- oder kommerziellen Marketing kommuniziert.“ (Schlicht & Zinsmeister, 2015, S. 166)

Das kommerzielle Marketing des Wirtschaftsbereichs ist eine Strategie mit dem Ziel, das Kaufverhalten von Konsumentinnen und Konsumenten „auf dem Markt“ zu beeinflussen. Es werden Waren und Produkte für die Befriedigung eines tatsächlichen oder zu weckenden Bedarfs verkauft zum Zwecke der Gewinnmaximierung des Verkäufers. Dies kann auch für zahlreiche gesundheitsbezogene Angebote, Dienstleitungen und Produkte eine zielführende Strategie sein, wie die Vermarktung von Lifestyle- und Wellnessangeboten, (freiverkäufliche) Arzneimittel, Kleidung und Ernährungsprodukten mit (vermeintlichem) Gesundheitsnutzen auf dem sogenannten Zweiten Gesundheitsmarkt zeigt, da er sich nicht über die Versicherungsbeiträge der Krankenversicherungen, sondern über die privaten Ausgaben der Bürgerinnen und Bürger finanziert.

Im Gegensatz dazu zielt das Gesundheits- und Präventionsmarketing im Sinne des Sozialen Marketings nicht auf Profite und unterscheidet sich vom kommerziellen Marketing dadurch, dass es der Zielpopulation und der Gesellschaft generell nützen soll und nicht primär dem Produktanbieter und seiner Gewinnmaximierung. Es ist auf die Veränderung von ideellen Zielen und sozialen Werthaltungen sowie auf die Beeinflussung von tradierten (schädlichen) Gewohnheiten ausgerichtet. Daher werden mit dem Sozialen Marketing neben der Gesundheit auch Ziele wie Ressourcenschonung und Umweltschutz; Gleichstellung, Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit verfolgt (Fettwulst & Friemel, 2016).

Zahlreiche gesundheitsbezogene Programme weltweit sind mithilfe des Konzepts des Sozialen Marketing entwickelt und umgesetzt worden (Familienplanung und Empfängnisverhütung, Verhütung übertragbarer Infektionen STI, Impfprogramme, Programme zur AIDS-Prävention, Inanspruchnahme von Krebs- Früherkennungsuntersuchungen, Herz-Kreislauf-Interventionsstudien etc.). Aus dem deutschsprachigen Raum können exemplarisch die schweizerische Informationskampagne „Leichter leben“ oder die Kampagne der deutschen Felix Burda Stiftung „Wer seinen Partner liebt, schickt ihn zur Darmkrebsvorsorge“ genannt werden. Die Centers für Disease Control and Prevention (CDC) der USA, die in etwa der Zuständigkeit des Robert Koch-Instituts in Deutschland entsprechen, haben den Ansatz schon in den 2000er Jahren in ihr erweitertes Konzept des Health Marketing aufgenommen.

Beim Gesundheitsmarketing im Sinne des Sozialen Marketing sind die Kosten nicht finanzieller und der Nutzen nicht materieller Art. Es wird von Organisationen betrieben, die selbst keine primär wirtschaftlichen Ziele verfolgen und hat den Nutzen und das Wohl der Gesellschaft oder spezieller Zielpopulationen im Blick; das gewünschte Ergebnis bedeutet mehr Gesundheit und Wohlbefinden. Eher ein „Nebeneffekt“ sind dann geringere Anforderungen an die Ressourcen des Gesundheits- und Gemeinschaftswesens. Es konkurriert dabei mit anderen Marketingkampagnen für kommerzielle zum Teil gesundheitsschädliche Produkte (wie Tabak, Alkohol und zuckerhaltige Lebensmittel) und ist im Vergleich zu diesen meist finanziell und personell dürftiger ausgestattet. So stehen etwa die notwendigen Ressourcen bei der Kampagnenentwicklung – z. B. zur systematischen Erforschung des „Marktes“ im Rahmen einer Analyse der Ausgangssituation, zur reichweitenstarken medialen Verbreitung, einer professionellen Gestaltung und zur systematischen Prüfung der Wirksamkeit (sogenannte summative Evaluation) – zumeist nicht hinreichend Mittel zur Verfügung.

Der Ansatz setzt die Instrumente des klassischen Marketing- bzw. Problemlösungsmix ein, wofür die vier „P“s stehen: Produkt, Preis, Promotion und Platzierung. Für Programme der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung steht jedoch zumeist nicht ein Produkt im Mittelpunkt der Kampagne, sondern es geht eher darum, das Image oder den Nutzen eines gesundheitsförderlichen Verhaltens z. B. des Impfens zu „verkaufen“. Der Preis bedeutet hier das Verhältnis zwischen den Kosten und dem Nutzen (vgl. Health belief model). Hier können finanzielle, soziale oder situative Kosten unterschieden werden. Für die Promotion oder Verbreitung stehen eine Vielzahl von Kanälen und Methoden zur Verfügung wie Broschüren, Zeitungsartikel, soziale Medien und mobile Technologien, Events, Stände etc. (vgl. Modell der persuasiven Kommunikation). Vor deren Einsatz sollte bekannt sein, welche Personen oder Institutionen als besonders glaubwürdig angesehen werden (z.B. Vorbilder bzw. Lernmodelle im Sinne der Sozial-kognitiven Theorie; Bandura, 2004). Generell müssen Kommunikation und Empfänger in Hinblick auf Sprache, Medien und Inhalten zusammenpassen (sogenannte „Audience segmentation“). Die richtige Platzierung meint das Auffinden, die Ansprache und den Zugang zur ausgewählten Population. Hiermit sind sowohl der physische Zugang zum Angebot gemeint (z. B. hinderliche Treppen zur Mütterberatungsstelle für Kinderwagen) als auch die Sensibilität für Sprachbarrieren und kulturelle oder religiöse Normen (siehe dazu die funktionale Form der Health Literacy/Gesundheitskompetenz)

An der Übertragung des Marketingansatzes auf den Gesundheitsbereich gab es seit seiner Einführung zum Teil fundamentale Kritik. So wird u. a. kritisiert, dass dadurch

  • Verhaltensprävention und Kommunikationspolitik priorisiert werden (im Gegensatz zur zumindest tendenziell struktur- und umweltorientierten Gesundheitsförderung),
  • die Gefahr besteht, die Zielgruppen zu manipulieren statt sie zu Partizipation (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger) anzuregen,
  • einzelne – oftmals sowieso schwer erreichbare – Gruppen durch die Segmentierung ausgegrenzt werden und
  • sich kommerzielle und gemeinwohlorientierte Interessen der Organisationen in den Kampagnen vermischen (beispielsweise durch die Finanzierung durch Pharma- oder Nahrungsmittelkonzerne).

Dennoch sind Marketingmethoden und damit die zielgruppenorientierten Ansätze mit systematischer Planung und Evaluation in Prävention und Gesundheitsförderung mittlerweile fester Bestandteil.

Die Marketingperspektive liefert Planungshilfen und weist Ähnlichkeiten zu systematischen Ansätzen der Projektplanung (vgl. PRECEDE/PROCEED-Modell; Intervention Mapping) und zur Kampagnenentwicklung (Medienanwaltschaft, Diffusion von Innovationen, Gesundheitskommunikation) auf.

Medienanwaltschaft — Interessenvertretung über die Medien und Agenda-Setting

Medienanwaltschaft (englisch: Media advocacy) ist eine Strategie, die öffentlichen und privaten Medien als Informationsträger und Ressource gezielt(er) für soziale bzw. gesundheitliche Anliegen zu nutzen. Durch Anwaltschaft soll die Bevölkerung gegen die Interessen derer verteidigt werden, die die Medien einsetzen oder „kaufen“, um über diesen Weg ihre „ungesunden“ Einstellungen und Produkte bekannt und akzeptabel zu machen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Medien einen starken Einfluss darauf haben, welche Themen in der breiten Bevölkerung diskutiert und folglich auf (gesellschafts-)politischer Ebene bearbeitet werden.

Ein wichtiges Element des Modells ist das Agenda Setting (Rössler, 2019). Der Ansatz geht davon aus, dass die Thematisierung und Priorisierung in den Medien, die Problemwahrnehmung der dargestellten Themen und Standpunkte in der Bevölkerung verändert. Die Berichterstattung in den Medien beeinflusst damit die Wahrnehmung von Themen in der öffentlichen und politischen Diskussion und damit auch die Diffusion von Gesundheitsförderungsaktivitäten (vgl. Diffusionstheorie).

Die Medienanwaltschaft wurde Ende der 1980er Jahre von Kommunikationsforscherinnen und -forschern in den USA entwickelt. Sie entstand als Ergebnis zunehmender Zusammenarbeit zwischen Gesundheits-(Public Health-)Initiativen, Bürgerrechtsbewegungen und Verbraucherschutzanwälten und -anwältinnen. Medienanwaltschaft erwies sich als ein wichtiges Instrument im komplexen Kampagnen-Mix für öffentliche Tabakkontrolle, für Nichtraucherschutz und -förderung sowie in der Bekämpfung und Vorbeugung alkoholbezogener Probleme. Die Strategie ist in den USA mittlerweile in vielen weiteren Feldern und Themen umgesetzt worden: zur Begrenzung der Verfügbarkeit von gezuckerten Getränken in Kindergärten und Schulen, zur Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln (sogenannter Nutriscore), zur Verbesserung des freien und sicheren Zugangs zu öffentlichen Orten von Menschen, die körperlich und sportlich aktiv sein wollen, zur Förderung und Verbreitung des Stillens an öffentlichen Orten, zur Gesundheitsförderung in sozial und ökologisch benachteiligten Quartieren etc..

Medienanwaltschaft wird bis heute eingesetzt, um gesellschaftlichen bzw. medialen Druck für gesundheitliche und sozialpolitische Veränderungen zu erzeugen. Zielgruppe sind dabei nicht die einzelnen, sich selbstschädigend oder problematisch verhaltenden Individuen (z. B. Raucherinnen und Raucher), sondern diejenigen, die gesellschaftliche Verantwortung für die Gesundheit und Lebensqualität der Bevölkerung haben. Dies sind Politikerinnen und Politiker, Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie wirtschaftliche und andere Führungskräfte mit der Macht, Entscheidungen über die physische, legale und soziale Umwelt von Menschen zu fällen und die Rahmenbedingungen vorzugeben, innerhalb derer die Einzelnen leben und Gesundheitsentscheidungen treffen (müssen). Daher können auch Journalistinnen und Journalisten als wichtige Gatekeeper adressiert werden, in der Hoffnung, dass sie dafür sorgen, die Themen auf die Medienagenda zu bringen (sogenanntes „Agenda-Building“) und dadurch die Entscheidungstragenden zum Handeln zu bewegen. Medienanwaltschaft zielt somit nicht darauf ab, die individuellen Verbraucherinnen und Verbraucher z. B. für den Kauf und Verzehr ungesunder Nahrungsmittel verantwortlich zu machen, sondern diejenigen in die Verantwortung zu nehmen, die über die Strukturen und Produkte entscheiden.

Wenn Massenmedien über Gesundheitsangelegenheiten berichten, verweisen sie oft auf individuelles Fehlverhalten und betonen die entsprechende Eigenverantwortlichkeit der Konsumentinnen und Konsumenten. Die Philosophie des eigenverantwortlichen Individuums nutzen die Hersteller von z. B. Alkoholika und Tabakprodukten und verweisen bis heute auf die scheinbar frei gewählte Entscheidung für das jeweilige Konsumverhalten („Ich rauche gern!“; „You decide!“). Auf kritische Anfragen hin betonen sie, dass Menschen selbstbestimmt seien und eventuelle Gesundheitsrisiken freiwillig und informiert eingingen. Die Medienanwaltschaft macht hingegen auf die strukturellen und normativen Bedingungen für individuelles Verhalten und den persönlichen Konsum aufmerksam, unter denen sich ein Risiko oder eine (z. B. Drogen-, Zigaretten- oder Alkohol-)Abhängigkeit erst zum persönlichen Problem entwickeln kann. Sie argumentiert auch, dass hier dem Opfer bzw. der Person mit weniger Handlungsspielraum bzw. geringerer Machtposition die Schuld zugeschoben werde („Blaming the victim“).

Im Gesundheitsbereich richtet sich Medienanwaltschaft bisher beispielsweise gegen Zigaretten- und Alkoholwerbung und -konsum. In den Kampagnen werden drei zentrale Strategien eingesetzt:

  • Kreative Epidemiologie („Creative epidemiology“, „Social math“): Wissenschaftlich solide Daten werden gesammelt und dann so „übersetzt“, dass sich die Medien und in der Folge auch die Öffentlichkeit dafür interessieren. Ein klassisches Beispiel für den Einsatz kreativer Epidemiologie war der von der Amerikanischen Krebsgesellschaft schon in den 1990er Jahren benutzte Slogan: „Eintausend Menschen hören täglich auf zu rauchen – indem sie sterben. Dies entspricht dem Absturz von zwei voll besetzten Jumbos ohne Überlebende.“ In diesem Beispiel wurde trockenes Zahlenmaterial provokativ in drastische, leicht vorstellbare Bilder übersetzt. Flugzeugunglücke erwecken Assoziationen von Feuer und Rauch in Verbindung mit Leiden und Tod. Diese affektiven Assoziationen sind gewollt. Sie setzen das Zigarettenrauchen in einen unangenehmen, anderen Kontext als den von Freiheit, Sex oder Abenteuer.
  • Den Verständnisrahmen neu setzen (Reframing): Eine zweite Strategiekomponente zielt auf die (Re-)Konstruktion oder Umdeutung von Bildern oder Symbolen, die an grundsätzliche menschliche Werte oder tiefe Überzeugungen appellieren. Ein klassisches Beispiel dafür ist der bewusste Einsatz des Begriffs „Freiheit“. Produzenten von Zigaretten stellen sich selbst als Repräsentantinnen und Repräsentanten der Freiheit und Verteidiger freier Entscheidungen dar, während sie Anti-Raucher-Gruppen als intolerante und radikale Zensorinnen und Zensoren individueller Entfaltungsmöglichkeiten bezeichnen. Dadurch bewirken sie, dass Kritik an ihrem Produkt zu einem Angriff auf Grundrechte und Zivilisiertheit werden. Sie verändern die Rahmung des Themas, in dem diese Frage ansonsten diskutiert würde – nämlich als Gesundheits- oder Suchtproblem. Wer dies schafft, kann die primären Diskussionsinhalte vorgeben und v. a. alternative, gesundheitsförderliche Problemlösungen in den Vordergrund rücken („Shaping the debate“).
  • Meldungen auf die Agenda bringen: Zufällige oder inszenierte Anlässe oder Veranstaltungen (wie Pressekonferenzen) oder Jahrestage werden genutzt, um damit die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen und sie dazu zu bringen, entweder bisher kaum Beachtetes auf die Agenda zu setzen oder bereits Bekanntes aus einem neuen Blickwinkel heraus zu beleuchten. Beispielsweise wurde die Herausgabe des jährlichen Businessberichts von Tabakfirmen in Australien zum Anlass genommen, einen zusätzlichen „Geschäftsbericht“ zu lancieren, der detailliert die Anzahl der Todes- und Krankheitsfälle für jede Zigarettenmarke separat im vergangenen Geschäftsjahr publizierte. Immer wichtiger ist auch die Gestaltung der eigenen Botschaften als kurze, prägnante, Schlagzeilen- und zitierfähige „Media bites“: z. B.: „Tabak ist das einzige Genussmittel, das bei ordnungsgemäßer Verwendung zum Tod führt“; „Shouldn’t we regulate guns as seriously as we regulate toys?“.

Medienanwaltschaft ist sowohl eine Weiterentwicklung herkömmlicher Methoden von Public Relations – jedoch mit Public-Health-Anliegen – als auch eine Anwendung der Kommunikationsforschung auf Krankheitsprävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsdeterminanten: „Media advocacy accelerates and amplifies community organizing and policy advocacy, helping public health practitioners, activists, and residents frame their issues so that the landscape of conditions comes into view and public health solutions are illuminated“ (Dorfman & Krasnow, 2014, S. 304).

Aus europäischem Blickwinkel ist Media Advocacy eine Weiterentwicklung der Anliegen und Strategien der Bürgerrechts-, Umwelt- und Emanzipationsbewegungen in das Medienzeitalter hinein. In Deutschland wird sie bisher eher von Aktivistinnen und Aktivisten aus dem kulturellen, medizin- und industriekritischen oder klassisch-politischen Bereich genutzt. Zum Beispiel zählen Menschenketten für humanitäre und Friedensanliegen, Anti-Pharma-Aktionen, die Anprangerung der agrarindustriellen Tiermast und Massentierhaltung oder spektakuläre Öffentlichkeitsaktionen wie Anti-Atomkraft-Demonstrationen bzw. Greenpeace-Aktivitäten dazu. Ein Beispiel für eine Gesundheitskampagne durch Medienanwaltschaft in Deutschland ist die Advocacy-Arbeit zur Finanzierung von Fertilitätsbehandlungen (z. B. die Konservierung von Eizellen) bei jungen Erwachsenen mit Krebs (Stüwe & Pawlowski, 2021) oder die jährlichen Aktivitäten zum Welt-AIDS-Tag an jedem 1. Dezember.

Literatur:

Arens, M. (2021). Theorieansätze und Hypothesen in der Medienpädagogik: Die Lasswell-Formel. In U. Sander, F. von Gross & K.-U. Hugger (Hrsg.). Handbuch Medienpädagogik (S. 1–7). Springer Fachmedien Wiesbaden. doi: doi.org/10.1007/978-3-658-25090-4_41-1.

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Verweise:

Determinanten der Gesundheit, Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung, Erklärungs- und Veränderungsmodelle 2: Theoriebasierte Interventionsplanung, Gesundheitskommunikation und Kampagnen, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Ökologische und humanökologische Perspektive, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Social Media / Gesundheitsförderung mit digitalen Medien