Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin

Regine Kollek , Alf Trojan

(letzte Aktualisierung am 04.01.2017)

Zitierhinweis: Kollek, R. & Trojan, A. (2017). Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i089-1.0


Die Prädiktive Medizin ist ein Teilgebiet der individualisierten Medizin. Synonyme für den Begriff der individualisierten Medizin sind personalisierte, stratifizierte oder maßgeschneiderte Medizin. Alle sind wiederum Teil einer breiteren Entwicklung, zu der auch die 2015 von Präsident Obama proklamierte Präzisionsmedizin gehört.

Die genannten Ansätze basieren auf der Erkenntnis, dass es verschiedene Subtypen von Krankheiten gibt, dass Menschen unterschiedliche Krankheitsrisiken tragen, und dass Medikamente oder andere Behandlungen nicht bei allen Patienten gleich gut wirken. Gemeinsam ist ihnen weiterhin, dass sie individuelle Unterschiede in der biologisch-genetischen Ausstattung der Patienten bei der klinischen Entscheidungsfindung stärker berücksichtigen wollen als bisher. Zu den in diesem Zusammenhang besonders betonten individuellen Unterschieden gehören Variationen in DNA-Sequenzen und andere Biomarker. Auf ihrer Grundlage werden Subgruppen von Patienten identifiziert, denen dann ggf. gezieltere Prognosen oder Interventionen angeboten werden können.
Ziel der individualisierten Medizin ist also die genauere und optimierte Behandlung von definierten Patientengruppen. Zu ihren aktuellen Kernbereichen gehören:  

  • die prädiktive genetische Diagnostik: Darunter versteht man die Identifikation von genetischen Krankheitsveranlagungen (Dispositionen), die sich erst später im Leben realisieren;
  • die Pharmakogenetik: Sie befasst sich mit der Feststellung genetisch bedingter, individueller Unterschiede, die die Reaktion auf Medikamente beeinflussen und die bei der Auswahl und Dosierung von Arzneimitteln zu berücksichtigen sind;
  • die molekularbiologisch begründete Verlaufsprognose einer (Krebs-)Erkrankung und ihres Ansprechens auf eine medikamentöse Behandlung: Dazu gehört auch das Therapie- und Nachsorgemonitoring auf der Grundlage von molekularbiologischen „Markern“ (individualisierte Prognose und Therapie).
  • die Anpassung von Behandlungsstrategien und Medikamenten an den molekular definierten Subtyp einer Krankheit und ggf. an den Genotyp von Patienten bzw. Patientengruppen.

Darüber hinaus ordnen verschiedene Autoren teilweise auch andere Bereiche der individualisierten Medizin zu. Dazu gehören unter anderem:

  • die Bestimmung der Blutgruppe vor einer Bluttransfusion;
  • die Gewebetypisierung vor einer Organtransplantation;
  • das Neugeborenen-Screening;
  • die prä-therapeutische Erfassung von Allergien und Unverträglichkeiten.

Bei der prädiktiven genetischen Diagnostik stehen von den Eltern (also über die „Keimbahn“) vererbte Krankheitsdispositionen, und hier vor allem solche für Krebserkrankungen im Zentrum medialer Aufmerksamkeit. Ein Beispiel dafür ist der Fall der Schauspielerin Angelina Jolie, die ein familiär bedingtes, erhöhtes Krebsrisiko hat und sich zur Vermeidung der Erkrankung die Brustdrüsen und später die Eierstöcke entfernen ließ. Solche erblichen Krebsdispositionen sind jedoch eher selten; sie machen etwa 5 bis 10 Prozent aller Krebserkrankungen aus. Zwar war schon vor der Entwicklung der prädiktiven genetischen Diagnostik eine Vielzahl biologischer Marker bekannt, die als Anzeichen für ein erhöhtes Krankheitsrisiko bzw. das Frühstadium einer beginnenden Erkrankung angesehen wurden. Im Gegensatz zu bereits vorhandenen physiologischen Krankheitsmarkern kann auf der Grundlage genetischer Sequenzdaten allein in den allermeisten Fällen jedoch nicht vorhergesagt werden, ob sich das genetisch bedingte Risiko jemals realisieren wird.

Die Pharmakogenetik ist der zweite wichtige Bereich der individualisierten Medizin. Sie zielt darauf ab, auf der Grundlage eines pharmakogenetischen (oder auch biochemischen) Tests das richtige Medikament in der richtigen Dosis zu verabreichen. Damit sollen die Wirkung des Medikaments sichergestellt und seine Nebenwirkungen minimiert werden. Diese Strategie basiert auf der Erkenntnis, dass Wirkstoffe von verschiedenen Individuen unterschiedlich verstoffwechselt werden (Pharmakokinetik). Anders als zunächst erwartet konnte sich die Pharmakogenetik klinisch bisher nicht breit etablieren. Zwar gibt es einige Arzneimittel, deren Wirkungen und Nebenwirkungen in hohem Maße durch ein einziges Gen beeinflusst werden. Im Regelfall ist jedoch beides multifaktoriell bedingt, so dass bisher erst wenige pharmakogenetische Tests Eingang in die Praxis gefunden haben.

Große Hoffnungen richten sich auf die individualisierte Prognose und Therapie, insbesondere von Krebs. Entsprechende Erkrankungen sollen molekular genauer charakterisiert werden, um auf der Grundlage solcher Befunde Aussagen über die Krankheitsprognose zu machen und die klinische Entscheidungsfindung zu unterstützen. Untersucht wird dabei in der Regel das Expressionsprofil, d.h. die Aktivität prognostisch und prädiktiv relevanter Gene. Tumorpatienten mit günstiger Prognose kann so eine belastende Chemotherapie erspart werden. In anderen Fällen geben spezifische Biomarker Auskunft darüber, ob ein Tumor auf ein bestimmtes Medikament anspricht, wie beispielsweise das Trastuzumab (Herceptin®) bei Brustkrebs.

Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der individualisierten oder personalisierten Medizin ist allerdings irreführend, da die individuelle psychosoziale und personale Seite des Menschen, also seine Fähigkeit zur Reflexion und Selbstbestimmung, zunächst gar nicht gemeint sind. Im Vordergrund steht vielmehr die biogenetische Klassifizierung und Stratifizierung der Patienten. Dabei wird oft aus den Augen verloren, dass das menschliche „Individuum“ oder die „Person“ mehr umfasst als molekularbiologische Aspekte. Insofern handelt es sich bei der aktuell dominierenden Verwendung des Begriffs der individualisierten oder personalisierten Medizin um einen rein naturwissenschaftlich - genauer: genetisch und biochemisch - definierten Begriff von Individualität, bei dem die Erfassung von Biomarkern und ihre Berücksichtigung bei Behandlungsentscheidungen im Zentrum steht.  

Andere Autoren bzw. Autorinnen verwenden die genannten Begriffe jedoch auch mit einer Definition, die durchaus über die aktuelle molekularbiologische Verkürzung hinausreicht: Bei Willich wird beispielsweise die „Individualmedizin“ dadurch gekennzeichnet, dass sie das bestmögliche Vorgehen unter Berücksichtigung von medizinischen, lebensgeschichtlichen und Persönlichkeitsfaktoren einschließt. Individualmedizin überlappt sich bei ihm mit Komplementärmedizin bzw. integrativer Medizin. Raspe verwendet den Begriff „personalisierte Medizin“ und rückt ihn in die Nähe einer „patientenzentrierten Medizin“, wie sie von der Psychosomatik seit den 1970er-Jahren vertreten wird (Psychosomatische Perspekive). Der Ausdruck meint dann eine auf den Patienten bzw. die Patientin in seiner/ihrer bio-psychosozialen Einmaligkeit ausgerichtete Diagnostik und Behandlung. Heusser und Kolleginnen schlagen ebenfalls vor, den Begriff der personalisierten und individualisierten Medizin zu erweitern, um im Sinne einer modernen und patientenzentrierten Medizin nicht nur den biologischen, sondern auch den für die Gesundheitsversorgung relevanten psychologischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Aspekten des menschlichen Individuums gerecht zu werden. Bei der Beurteilung der personalisierten bzw. individualisierten Medizin muss also immer zunächst geklärt werden, welche Wortbedeutung gemeint ist.

Eine möglichst eindeutige Definition empfiehlt sich auch für den Begriff der prädiktiven Medizin im Sinne prädiktiver Diagnostik. Während die Begriffe der prädiktiven, individualisierten oder personalisierten Medizin teilweise unterschiedlich verwendet werden, ist der Begriff einer prädiktiven genetischen Untersuchung durch das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz (GenDG) definiert. Das Gesetz versteht darunter eine Untersuchung mit dem Ziel der Abklärung a) einer erst zukünftig auftretenden Erkrankung oder gesundheitlichen Störung oder b) einer Anlageträgerschaft für Erkrankungen oder gesundheitliche Störungen bei Nachkommen (GenDG §3(8)).

Gemäß dieser Definition kann eine prädiktive genetische Untersuchung in eine Phänotyp- und eine Genotyp-Prävention einmünden:

  • Eine Phänotyp-Prävention wird mit dem Ziel der Verhinderung von genetisch bedingten Erkrankungen beim einzelnen Individuum durchgeführt. Phänotyp-Prävention kann durch Veränderung krankheitsverursachender Faktoren (Umweltfaktoren, Lebensstil), durch Maßnahmen der Frühdiagnostik und durch präventive Interventionen erfolgen.
  • Eine Genotyp-Prävention wird mit dem Ziel der Unterbrechung der Weitervererbung genetischer Veranlagungen durch Testung des Trägerstatus, Beratung zur Familienplanung, pränatale Diagnostik und Terminierung der Schwangerschaft durchgeführt.

Die Genotyp-Prävention rückt die prädiktive Medizin in die Nähe der Eugenik und trägt dazu bei, dass die prädiktive Diagnostik seit ihrer Entwicklung im Rahmen des Human Genome Projects, das um 1990 startete, kritisiert wird.

Das Gendiagnostikgesetz regelt unter anderem die Durchführung der prä- und postnatalen genetischen Diagnostik und der prädiktiven Diagnostik sowie den Umgang mit den dabei erhobenen Daten (Qualitätssicherung, Arztvorbehalt, Reihenuntersuchungen sowie Aspekte der Einwilligung, Aufklärungspflicht, Befundmitteilung und anderes mehr).

Fragen der prädiktiven Diagnostik oder der individualisierten Medizin und ihrer Effekte auf die Gesundheit der Bevölkerung und das Gesundheitswesen werden z.B. unter der Überschrift von Public Health Genetics, Community Genetics oder Public Health Genomics seit Mitte der 1990er Jahre immer häufiger auch in Public Health thematisiert (Gesundheitswissenschaften / Public Health). Während unter Genetik in der Regel die Erforschung der Struktur und Funktion einzelner Gene und ihrer Vererbung verstanden wird, betrachtet die Genomik alle Gene eines Organismus und ihre Wechselwirkungen untereinander. Ergänzt wird die Genomik durch weitere, so genannte „Omics“-Disziplinen, die sich etwa mit der Gesamtheit der abgelesenen DNA-Sequenzen (Transkriptomik), der in Reaktion auf Außenstimuli gebildeten Proteine (Proteomik) oder DNA-Modifikationen (Epigenetik, Epigenomik) befassen.

Vor diesem Hintergrund beschreiben die Begriffe Public Health Genetics bzw. Public Health Genomics die Anwendung der Genetik bzw. der Kenntnisse über das Genom im Bereich Public Health und zwar mit dem Ziel, Krankheitsprävention und -behandlung auf die genetische Ausstattung der Patienten abzustimmen und genombasiertes Wissen systematisch in Public Health und damit in die gesamte Gesundheitsversorgung zu integrieren. Im Gegensatz zu den auf die Bevölkerungsgesundheit hin orientierten Varianten von Public Health Genetics bzw. Genomics fokussierte die parallel dazu entstandene Community Genetics stärker eine gemeinde- bzw. gruppenbezogene Versorgung mit genetischen Dienstleistungen.

Die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Strömungen sind jedoch fließend. Das wird auch daran erkennbar, dass sich die 1998 gegründete Fachzeitschrift „Community Genetics“ im September 2008 in „Public Health Genomics“ umbenannte.

1997 wurde in den USA bei den Centers of Disease Control das Office for Public Health Genomics eingerichtet, dessen Aufgabe darin besteht, die Erkenntnisse der Genomforschung in staatlichen Gesundheitsprogrammen zum Tragen zu bringen. Ähnliche Initiativen finden sich auch in manchen europäischen Ländern. Obwohl genetische Fragestellungen im Zusammenhang mit Methoden der genetischen Epidemiologie zunehmend auch Eingang in die Public-Health-Studiengänge in Deutschland finden, hat sich die Public Health Genomik als akademisches Fach oder spezialisierte Dienstleistung im Gesundheitswesen institutionell bisher nicht etabliert.

Die Rolle genetischer Faktoren bei der Entwicklung von Krankheiten kann sehr unterschiedlich sein. So unterscheidet man 1. monogen bedingte Erbkrankheiten wie Chorea Huntington (neurologische Erkrankung mit fehlender motorischer Kontrolle), Zystische Fibrose (Drüsenfunktionsstörung mit verdicktem Bronchialsekret), Hämophilie (Blutgerinnungsstörung) oder bestimmte Stoffwechselerkrankungen, 2. Krebserkrankungen mit erblichem Anteil (Mamma- und Eierstockkarzinom, Darmkarzinom) oder entsprechende neurologische Erkrankungen (erbliche Formen von Demenz) und 3. Krankheiten mit genetischer „Suszeptibilität“ (Empfänglichkeit) (z.B. Diabetes, neurodegenerative Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Insbesondere für monogen bedingte Erkrankungen ist die Bedeutung der humangenetischen Diagnostik groß. Für die anderen Bereiche ist das klinisch relevante Wissen bisher begrenzt (Ausnahme: einzelne familiär bedingte, seltene Krebstypen, und zunehmend die molekularbiologisch begründete Verlaufsprognose von Krebserkrankungen mit darauf basierenden therapeutischen Handlungsempfehlungen).

Während der Laufzeit des Human Genome Projects (1990 bis ca. 2003) wurde die Bedeutung genetischer Faktoren nicht nur für die überwiegend seltenen monogenen Erbkrankheiten, sondern auch für komplexe und verbreitete Erkrankungen stark betont. Inzwischen wird immer deutlicher, dass der Einfluss einzelner genetischer Faktoren bei verbreiteten Erkrankungen gering ist, und dass sie in der Regel das Resultat des Zusammenspiels nicht nur vieler genetischer Faktoren, sondern vor allem auch solcher der Umwelt und des Lebensstils sind. Vor diesem Hintergrund wurden viele früher gefeierte „Entdeckungen“ wie die eines sogenannten Schizophrenie-, Alkoholismus- oder Depressions-Gens inzwischen bis zur Bedeutungslosigkeit relativiert.

Gleichwohl bleibt die Aufklärung monogener Krankheiten, die im Einzelfall häufiger sind als ursprünglich angenommen, eine wichtige Aufgabe für die Medizin und Genomforschung. Außerhalb dieses Bereiches ist die klinische Relevanz von Genetik und Genomforschung und ihr Nutzen für Patienten und Gesundheitswesen nach wie vor begrenzt. Von daher ist die zeitweise Überschätzung genetischer Faktoren für Medizin und Public Health heute teilweise einer gewissen Ernüchterung gewichen. Im Bereich der individualisierten Medizin oder Präzisionsmedizin konzentriert man sich heute vor allem darauf, genetische Subtypen von großen Krankheitsentitäten wie beispielsweise Brustkrebs oder Herz-Kreislauferkrankungen zu definieren. Ziel ist, die Prognosen für die entsprechend stratifizierten Patientengruppen zu verbessern und ihnen präzisere Behandlungen anzubieten.

Ein wichtiger Treiber dabei sind die enormen technischen Fortschritte auf dem Gebiet der Genomsequenzierung, der Gentech-Methoden (insbesondere die Crispr-Cas9 Technik) und der informationstechnischen Datenverarbeitung. In Kürze wird ein universeller diagnostischer Test für alle bekannten Genvarianten oder gar die Gesamtsequenzierung eines individuellen Genoms nur noch so viel Geld kosten, wie früher für den Ausschluss eines einzigen genetischen Defekts benötigt wurde. Anlageträger für rezessive Krankheiten sind schon heute mit vergleichsweise geringem Aufwand identifizierbar. Relevant sind diese Fortschritte jedoch hauptsächlich für monogen bedingte Erkrankungen, und bei der Aufklärung bislang unbekannter genetischer Ursachen beispielsweise kindlicher neurologischer Erkrankungen.

Die gesellschaftlichen Implikationen prädiktiver Gentests, des genetischen Screenings und der fortschreitenden Kenntnisse über Funktion und Zusammenspiel genetischer Faktoren sind vielfältig (Kollek und Lemke 2008). Die wichtigsten kritischen Aspekte sind:

  • Sehr hohe bis überhöhte Erwartungen und Hoffnungen, die bei Patientinnen und Patienten erzeugt werden (genauere Krankheitsdiagnosen und individuelle genetische Ausstattung könnten zu gezielter Auswahl individuell wirksamer Therapieoptionen, genauerer Verlaufskontrolle von Krankheiten und insbesondere zu „individualisierter Prävention“ führen). Am krassesten wird die Problematik des individuellen Umgangs mit unsicherem prädiktivem Wissen bei einzelnen (seltenen) Brustkrebsformen deutlich: Ist die Amputation der Brüste eine vertretbare präventive Option?
  • Die Wirksamkeitsnachweise, die bei präventiven Interventionen generell problematisch sind, sind im Bereich individueller prädiktiver Informationen noch schwieriger zu führen. Die Grundannahme für den Nutzen prädiktiver genetischer Tests ist, dass positiv getestete Personen motiviert sind, präventive Maßnahmen zu ergreifen, um ihr Gesundheitsrisiko zu minimieren. Daten, die dies belegen könnten, sind nach wie vor rar. Übersichtsarbeiten kommen teilweise zu dem Schluss, dass die Aktivitäten der informierten Betroffenen zur Risikoreduktion begrenzt sind. Die Handlungsrelevanz der prädiktiven Diagnostik scheint jedoch umso größer zu sein, je eindeutiger und einfacher das Risiko nachgewiesen werden kann und je einfacher es im Alltag zu kontrollieren ist. Dies ist z.B. bei der familiären Hypercholesterinämie durch Einnahme von Lipidsenkern der Fall. Auch bei familiärem Brustkrebs ist die präventive Wirkung der operativen Entfernung von Brustdrüsen und Eierstöcken - so problematisch sie auch sein mag - bei identifiziertem genetischem Risiko belegt.
  • Auf der gesellschaftlichen Ebene gewinnen genetische Untersuchungen und prädiktive Tests zunehmend an Legitimität und Akzeptanz. Teilweise entsteht der Eindruck einer biomedizinischen Beherrschbarkeit von Gesundheitsrisiken, der gegenüber die gesundheitsgerechte Gestaltung der Lebensbedingungen nachrangig wird. Die Lebenswelt kommt dann nur sekundär in ihrem epigenetischen Niederschlag ins Blickfeld. Damit wird dem Individuum zugleich mehr Gesundheitsverantwortung zugeschoben. Kritiker fragen, ob wir uns auf dem Weg vom Recht auf Gesundheit in Richtung „Pflicht zur Gesundheit“ bewegen. Eng damit verbunden ist die sehr konkret absehbare Gefahr der genetischen Diskriminierung in der Arbeitswelt und bei Versicherungen, für die es zwar bislang wenig empirische Evidenz gibt, die aber auch schwierig zu untersuchen ist.

Überspitzt gesagt können Thesen wie „Wer übermäßig viel isst, schadet nicht nur seinem Körper, sondern auch dem deutschen Gesundheitssystem!“ zur Bestrafung bestimmter gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen führen. Daraus könnte sich die Verpflichtung entwickeln, sein persönliches Genom und die persönlichen Risiken zu kennen und die eigene Lebensführung dauerhaft darauf abzustellen.

Der genetische Verantwortungsdiskurs hat drei Dimensionen, die zumindest teilweise auch für die individualisierte Medizin insgesamt gelten:

  1. Reproduktionsverantwortung: Dabei geht es um die Norm verantwortlicher Elternschaft, d.h. um den Einsatz möglichst schon pränataler Tests zur Bestimmung von Risiken und ggf. die Verhinderung der Weitergabe „kranker“ bzw. risikoträchtiger Gene an die Nachkommen.
  2. Informationsverantwortung: Hier geht es um die Aufweichung genetischer Privatheit und Selbstbestimmung. Müssen Personen mit genetischen Risiken ihre Angehörigen über solche Risiken informieren? Muss der Arzt aus Verantwortung gegenüber dem Einzelnen zugunsten einer Aufklärung von Angehörigen aufgeben? Wird es eventuell sogar eine Informationspflicht gegenüber Dritten (z.B. Versicherungen) geben?
  3. Eigenverantwortung: Dieser Begriff steht für das Maß und die verhaltensnormierende Kraft von Erwartungen, die die Gesellschaft hinsichtlich der Erhaltung und Förderung von Gesundheit an die Individuen richtet. Entsteht aus den Erkenntnissen der Gen- und Genomforschung eine erweiterte Pflicht, sich einer Analyse des eigenen Genoms zu unterziehen und sich medizinisch definierten Normen zum Management der eigenen genetischen Risiken zu unterwerfen? Bedeutet es eine Abwendung von traditionellen Public-Health-Strategien?

Ob bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert werden, ergibt sich jedoch nicht aus der genetischen Diagnostik oder individualisierten Medizin allein, sondern ist letztlich eine gesundheitspolitische Entscheidung. Bereits bekannte Biomarker für gesundheitsschädigendes Verhalten wie z.B. für Rauchen haben zumindest bislang nicht zur Etablierung von Sanktionen geführt. Da sich jedoch sowohl die Entwicklung der prädiktiven Diagnostik, der genombasierten Prävention als auch die der individualisierten Medizin, und vor allem ihre Implementierung im Gesundheitswesen noch im Anfangsstadium befinden, muss derzeit offen bleiben, ob und wie weit der Diskurs um prädiktive Diagnostik bzw. individualisierte Medizin auf eine Verstärkung der individuellen Eigenverantwortung hinführt und von exogen verursachten Krankheitsgefahren ablenkt.

Zu den gesellschaftlichen Implikationen der Entwicklungen, die im Zusammenhang mit der individualisierten Medizin genannt werden müssen, gehört schließlich auch der damit dramatisch steigende Bedarf an individuellen, gesundheitsrelevanten Daten. Die Effekte einzelner Gene auf komplexe Phänotypen sind häufig gering und ihr Wechselspiel mit Umweltfaktoren komplex. Von daher müssen große Bevölkerungsgruppen untersucht werden, um relevante Gene und Biomarker zu identifizieren. Dabei ist man auf die Forschung mit menschlichem Zellmaterial angewiesen, dass in großer Zahl gemeinsam mit entsprechenden soziodemographischen, klinischen und Lebensstil-bezogenen Daten von Patienten und Probanden gesammelt und in Biobanken gelagert und prozessiert wird, so z.B. auch in der deutschen Langzeitstudie „Nationale Kohorte“. Zwar ist die Erhebung solcher Materialien und Daten für Forschungszwecke u.a. durch das Datenschutzrecht geschützt (nicht aber durch das spezifischere GenDG); dennoch können durch die Fülle der Daten und die Langfristigkeit ihrer Speicherung neue Datenschutzprobleme entstehen.

Verstärkt wird die Datenschutzproblematik durch die wachsende Tendenz zur Selbstvermessung mithilfe digitaler Medien (Social Media), die darin besteht, dass immer mehr Menschen Daten über ihr gesundheitsrelevantes Verhalten und entsprechende Aktivitäten sammeln und diese elektronisch teilweise anderen zugänglich machen. Diskutiert wird unter anderem, ob solche Daten für die Forschung oder von Krankenkassen genutzt werden können um die Gesundheitsversorgung zu optimieren. Thematisiert wird dieser Komplex auch unter dem Stichwort der Mitwirkung der Bevölkerung an der Entwicklung der zukünftigen, individualisierten Medizin, die Leroy Hood (Institute for Systems Biology, Seattle), einer der wichtigsten Protagonisten dieser Entwicklung, bereits mit dem verführerisch eingängigen Begriff der P4-Medizin belegt hat: prädiktiv, präventiv, personalisiert und partizipativ.

Dabei muss der Begriff „partizipatorisch“ sicher genauso kritisch befragt werden wie der Begriff individualisiert bzw. personalisiert, denn im Zweifelsfall bezieht sich die hier gemeinte Mitwirkung nicht auf die Gestaltung der medizinischen Versorgung und des Gesundheitssystems, sondern auf die reine Zulieferung von Daten und Biomaterialien (Partizipation). Dennoch ist davon auszugehen, dass eine Biomarker-basierte, stratifizierte Medizin ohne ein weiter gehendes Engagement der Bevölkerung bei der Schaffung entsprechender Datenbestände kaum möglich sein wird. Erste Untersuchungen zeigen, dass im Kontext der personalisierten Medizin von den Bürgern explizit erwartet wird, dass sie medizinisch besser gebildet, proaktiver, und engagierter bei ihrer Gesundheitsversorgung sind als im Kontext konventioneller medizinischer Modelle (siehe Abb.). Solche Entwicklungen können sicherlich zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung beitragen. Zugespitzt könnte man aber auch sagen, dass die Frage nicht darin besteht, was die personalisierte Medizin für die Bürger tun kann, sondern was die Bürger für die personalisierte Medizin tun können.

In der Literatur beschriebene Verhaltensweisen und Praktiken, die von Bürgern im Kontext der individualisierten Medizin erwartet werden
(nach Budin-Ljøsne & Harris 2015)

Engagement bei der eigenen Gesundheitsversorgung

  • Teilnahme an Entscheidungsprozessen im Hinblick auf Prävention, Diagnose und Behandlung
  • Nutzung neuer Technologien zum Management von Gesundheitsinformationen (inkl. Genetische Risikoinformationen)
  • Information von Familienmitgliedern über genetische Risiken
  • Kauf genetischer Dienstleistungen und Gesundheitsprodukte über das Internet
  • Zustimmung zu gezielten Behandlungsstrategien, die auf dem genetischen Profil basieren

Beiträge zur Forschung

  • Zustimmung zur Nutzung von biologischen Materialien und Gesundheitsdaten durch die Forschung
  • Teilnahme an Forschungsprojekten
  • Mitwirkung an bürger- und durch soziale Netzwerke geleiteten Initiativen zum Austausch gesundheitsrelevanter Daten
  • Beiträge zur Etablierung von Patientenregistern
  • Mitteilung von Gesundheitsdaten und Public Health Institutionen und Autoritäten
  • Kommunikation mit Forschern über die Werte von Patienten

Engagement beim Design der Personalisierten Medizin

  • Teilnahme an öffentlichen Anhörungen und Debatten über die personalisierte Medizin
  • Zusammenarbeit mit Gesundheitsfachleuten und Arzneimittelherstellern durch Mitwirkung in Patientenschutz- und Selbsthilfegruppen, Beratungsgremien und beim Health Technology Assessment

Eine abschließende Beurteilung der prädiktiven bzw. individualisierten Medizin und ihrer Auswirkungen auf Gesundheitssystem und Gesellschaft ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Relativ klar zeichnet sich jedoch ab, dass die Versprechungen zum klinischen Nutzen derzeit überhöht sind und die möglichen gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Folgen zu wenig reflektiert werden, bis hin zu ihrer Bagatellisierung durch einige Protagonisten der individualisierten Medizin.

Diese Einschätzungen basieren stark auf der im November 2010 als Konsenspapier dreier Wissenschaftlicher Akademien veröffentlichten Stellungnahme „Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention“. In insgesamt 22 klar formulierten Empfehlungen wird ausgedrückt, wie ein verantwortlicher Umgang mit dem neu entstehenden genetischen Wissen aussehen kann. Zentrale Aussagen sind u.a. die Forderung, dass DTC-Tests (internetbasierte „direct to consumer“-Angebote) nicht zugelassen werden sollten, weil sie die Anforderungen an eine medizinisch und ethisch akzeptable prädiktive genetische Diagnostik nicht erfüllen. Und weiterhin als deutliche Warnung: „Bevor die prädiktive genetische Diagnostik in das Gesundheitssystem integriert werden kann, müssen Belege für ihre Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit vorliegen. Hierzu sind wissenschaftliche Begleitprojekte notwendig.“ Außer der Anmerkung, dass dies auch für die individualisierte Medizin insgesamt gilt, ist dieser Einschätzung auch nach Überarbeitung des Artikels im März 2016 kaum etwas hinzuzufügen.

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Internetadressen:

www.cdc.gov/genomics/default.htm (Office for Public Health Genomics)
www.epmanet.eu (Gesellschaft für prädiktive, präventive und personalisierte Medizin in Europa)
www.ethikrat.org (Audiomitschnitte und Präsentationen zum Thema personalisierte Medizin)
www.eurogentest.org (Eurogentest)
www.hgqn.org (Humangenetisches Qualitätsnetzwerk)
www.leopoldina.org (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina)
www.netzwerk-praenataldiagnostik.de/startseite.html (Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik)
www.systemsbiology.org (Institute for Systems Biology)
www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/GendiagnostikKommission/GEKO_node.html (Gendiagnostik-Kommission [GEKO] beim Robert-Koch-Institut)

Verweise:

Gesundheitswissenschaften / Public Health, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Psychosomatische Perspektive, Social Media / Gesundheitsförderung mit digitalen Medien

Wir danken Joseph Kuhn für seine Mitarbeit an früheren Fassungen dieses Leitbegriffs!