Medizinische Prävention

Gamze Güzel-Freudenstein , Bernt-Peter Robra

(letzte Aktualisierung am 21.05.2022)

Zitierhinweis: Güzel-Freudenstein, G. & Robra, B. (2022). Medizinische Prävention. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i076-2.0

Zusammenfassung

Die Medizinische Prävention bezeichnet alle medizinischen Maßnahmen mit dem Ziel, Krankheit, Behinderung und vorzeitigen Tod zu verhindern bzw. deren Inzidenz zu senken. Die Medizinische Prävention kann dabei bevölkerungsbezogen in verschiedenen Settings erfolgen. Eine präventive oder proaktive Medizin zur Risikoreduktion von Gesundheitsgefährdungen verlangt eine evidenzbasierte Begründung ihrer Interventionen und eine erweiterte professionelle Identität von Medizinern und Medizinerinnen. Die arbeitsmedizinische Prävention und Vorsorge in der Arbeitswelt nimmt dabei eine geregelte Sonderstellung ein.

Schlagworte

Medizinische Prävention, arbeitsmedizinische Prävention und Vorsorge, proaktive Medizin, Gesundheitsgefährdung, Inzidenzabsenkung, Risikoreduktion, Impfprävention, Früherkennung, Rehabilitation


Prävention ist Risikomanagement

Prävention zielt darauf, unerwünschte Ereignisse zu verhindern oder zu verzögern und damit weniger wahrscheinlich zu machen. Diese Wahrscheinlichkeit (das Risiko) kann z. B. bestimmt werden als Zahl der auftretenden Ereignisse pro 1.000 risikobehafteter Personen in einer bestimmten Zeit (sogenannte Inzidenz). Prävention ist in diesem Sinn also ein bevölkerungsbezogenes (epidemiologisches) Konzept (Prävention und Krankheitsprävention; Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin).

„Das wichtigste bevölkerungsbezogene Ziel von Prävention ist die Inzidenzabsenkung von Krankheit, Behinderung oder vorzeitigem Tod“ (Walter, Robra & Schwartz 2012, S. 196). Positiv gewendet zielt Prävention darauf, die Gesundheitserwartung, die Lebenserwartung in Gesundheit zu erhöhen. Von medizinischer Prävention können wir sprechen, wenn die unerwünschten Ereignisse oder − und mehr noch − die zur Senkung der Inzidenz zu ergreifenden Maßnahmen ärztliches Handeln erfordern (z. B. Impfungen, medikamentöse Blutdrucksenkung, Entfernung von Krebsvorstufen).

Die medizinische Prävention kann in verschiedenen Settings bzw. Lebenswelten (Settingansatz/Lebensweltansatz) erfolgen, so auch in der Arbeitswelt (Betriebliche Gesundheitsförderung). Hier ist das wichtigste Ziel, arbeitsbedingte Erkrankungen, Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle zu verhindern. Die Arbeitsmedizin als rein präventiv ausgerichtete medizinische Fachrichtung ohne klassische kurative Aufgaben widmet sich der Primär-, Sekundär-, und Tertiärprävention auf betrieblicher Ebene (Scheuch & Panter 2006). Das Spektrum der im Arbeitssicherheitsgesetz (ASIG) von 1973 definierten Aufgaben der Betriebsärzte und Betriebsärztinnen, d. h. der arbeitsmedizinisch tätigen Ärzte und Ärztinnen, die einen Betrieb betreuen, wurde durch das Präventionsgesetz (PrävG) von 2015 um Dienstleistungen im Interesse der Allgemeinheit bevölkerungsbezogen erweitert (Hein-Rusinek 2018). Für die Arbeitswelt gilt, dass „zentrale Aufgaben der arbeitsmedizinischen Prävention die Beteiligung an der Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsbedingungen, die Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Begutachtung arbeits- und umweltbedingter Risikofaktoren, Erkrankungen und Berufskrankheiten, die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdungen einschließlich individueller und betrieblicher Gesundheitsberatung, die Vermeidung von Erschwernissen und Unfallgefahren sowie die berufsfördernde Rehabilitation sind“ (Letzel et al. 2014).

Bestandteil der arbeitsmedizinischen Prävention ist die Arbeitsmedizinische Vorsorge nach der Verordnung zur Arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMed VV). Sie „dient dabei der Beurteilung der individuellen Wechselwirkungen von Arbeit und physischer und psychischer Gesundheit und der Früherkennung arbeitsbedingter Gesundheitsstörungen sowie der Feststellung, ob bei Ausübung einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte gesundheitliche Gefährdung besteht“ (§ 2 Absatz 1 Nummer 2 ArbMedVV). Grundlage dafür ist die im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung.

Bei der Arbeitsmedizinischen Vorsorge stehen die Aufklärung und Beratung der Beschäftigten zu ihrer Tätigkeit und den daraus sich ergebenden Gefährdungen für ihre individuelle Gesundheit im Vordergrund.

Prävention als Risikoreduktion ist allerdings nicht ohne weiteres mit herkömmlichem medizinischen Handeln vereinbar. Denn herkömmlich werden Medizinerinnen und Mediziner von Hilfesuchenden in Anspruch genommen, d. h. ein Individuum tut den ersten Schritt. Die medizinische Profession arbeitet dann fallbezogen und mit kurativer, hilfsweise palliativer (lindernder) Absicht. Eine präventive oder proaktive Medizin, die vor Eintritt von Hilfebedürftigkeit ansetzt, verlangt eine neue Begründung für medizinische Interventionen und von den Medizinern und Medizinerinnen eine erweiterte professionelle Identität, wie sie für die Arbeitsmedizin bereits gegeben ist. Dieser an sich wünschenswerte Wandel des professionellen Handlungsfeldes muss gegen die negativen Folgen einer Medikalisierung von Lebensbereichen, die bis dahin nicht der medizinischen Versorgung zugerechnet wurden, abgewogen werden.

Abbildung 1 veranschaulicht das Konzept der Risikoreduktion. Dazu spannt sie zunächst einen Rahmen auf, dessen x-Achse die maximal mögliche Lebenszeit eines Menschen darstellt. Auf der y-Ache sind versorgungsrelevante Stadien aufgetragen, die eine Krankheit durchläuft. In diesem Rahmen ist beispielhaft ein unbeeinflusster Fallverlauf (A-B) eingezeichnet. Die anderen Linien kennzeichnen mit präventiver Absicht beeinflusste Verlaufsvarianten. Unbeeinflusste Verläufe, die in einem funktionierenden Medizinsystem nur selten vorkommen, nennt man „naturgesetzliche Verläufe“.

Eine Darstellung als Fallverlauf kommt individualmedizinischem Denken und Handeln entgegen. Sie blendet aus, dass jeder Einzelfall nur einen von vielen möglichen Verläufen realisiert. Deswegen steht der dargestellte Verlauf für eine Verteilung möglicher Verlaufsvarianten. Erkennbar ist, dass Prävention konzeptionell den ganzen Lebensverlauf einbeziehen soll.

A: Beginn (Induktion) eines Verlaufs; A ist streng genommen kein Punkt, sondern eine Verteilung von Induktionszeiten, angedeutet durch einen zweiten Punkt A*.
A-B: Fall mit unbeeinflusstem (schnellen) Verlauf über alle Verlaufsstadien, vorzeitiger Tod (B) mit Verlust möglicher Lebensdauer (C-B).
A-D: Sehr früh richtunggebend beeinflusster, verlangsamter Verlauf, symptomfrei für den Rest des Lebens; entsprechend verzögerte Entstehung A*-D*.
A-E-F: In der entdeckbaren präklinischen Phase „früh erkannter“ Fall, Verlauf richtunggebend beeinflusst; G-E Vorverlegung der Diagnosezeit („lead time“), F-H Gewinn an Lebensdauer, (B-H-F-C) - (E-G-I) Gewinn an Lebensqualität (QALYs).
A-J-K: Nach klinischer Manifestation günstig beeinflusster Verlauf, Gewinn an Lebenszeit, Verzögerung des Eintritts der Pflegebedürftigkeit bei Verlängerung ihrer Dauer.
A-L-M: Nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit gewonnene Lebensdauer (M-B).


Die maximal mögliche Lebenszeit (x-Achse) ist ein epidemiologisches Konzept, das ein Arzt bzw. eine Ärztin für einen Einzelfall nicht sicher prognostizieren kann. Epidemiologisch ist sie dagegen durch vergleichende Datenerhebung in Situationen mit und ohne gut organisierter Prävention erschließbar.

Prävention kann die klinische Manifestation einer Erkrankung vermeiden, d. h. die Krankheit bleibt symptomlos, sie bricht nicht aus (A-D). Beispiel: Nach einer Verletzung wird der Ausbruch von Wundstarrkrampf (Tetanus) verhindert, weil der Verletzte über einen ausreichenden Impfschutz verfügt oder durch Wundreinigung und Gabe eines Immunglobulins die schädliche Wirkung von Bakteriengiften vermieden wird. Wir sprechen von primärer Prävention. Auch kann Prävention die Induktion einer Krankheit verzögern (A*-D*).

Wenn der unbeeinflusste Verlauf bis in die präklinische Phase reicht, also der oder die Betroffene selbst noch keine Symptome bemerkt, aber mit medizinischen Tests doch schon frühe Krankheitszeichen oder Vorstadien diagnostiziert werden können, ist dies per se für das Individuum bedeutungslos (rechter oberer Teil des Verlaufs A-D). Medizinisch wäre es „Überdiagnostik“, würde man solche Verläufe, die zu Lebzeiten der betroffenen Person verborgenen geblieben wären, in der präklinischen Phase erkennen wollen (Robra, Swart & Klemperer 2013).

Schreitet der Fall über die präklinische Schwelle in die entdeckbare präklinische Phase vor und entdeckt dort ein Suchtest bei symptomlosen Personen bereits Krankheitsfrühzeichen (A-E), sprechen wir von Früherkennung oder sekundärer Prävention. Ob Früherkennung mehr nutzt als schadet, hängt davon ab, ob durch Frühintervention der natürliche Verlauf (noch) richtunggebend beeinflusst werden kann. Diese Prognoseverbesserung kann man nur auf Basis hinlänglich großer vergleichender Studien (mit vs. ohne Früherkennung) einschätzen, nicht im Einzelfall. In der Schemazeichnung wird der Verlauf nach A-E-F verbessert, d. h. dieser Patient oder diese Patientin erreicht jetzt seine oder ihre maximal mögliche Lebenszeit.

Das ist aber keineswegs bei allen Früherkennungsmaßnahmen der Fall. Der Gewinn an Lebenszeit ist F-H (nicht F-E), der Gewinn an Lebensqualität das Rechteck B-H-F-C. Allerdings muss von der „nach hinten“ gewonnenen Lebensqualität die vorne durch Frühentdeckung und vorgezogene Behandlung verlorene Lebensqualität (Dreieck E-G-I) abgezogen werden. Darüber hinaus hängt die Bewertung einer Früherkennungsstrategie davon ab, wie groß die Zahl der falsch positiven und der überdiagnostizierten Fälle relativ zu den prognostisch günstig beeinflussten Fällen ist. Falsch positive und überdiagnostizierte Personen haben durch das Früherkennungsprogramm nur Nachteile.

Nach Überschreiten der Symptomschwelle befinden wir uns im Kernbereich des medizinischen Hilfesystems. Die Medizin gibt sich große Mühe, richtige Diagnosen zu stellen und akute Beschwerden zu lindern. Doch prognostisch entscheidend ist auch in diesem Stadium, wie der natürliche Verlauf (noch) richtunggebend beeinflusst werden kann (tertiäre Prävention). Ein großer Teil der medizinischen Betreuung dient der tertiären Prävention, z. B. die Hemmung der Blutgerinnung nach einem Herzinfarkt, die Einstellung des Blutzuckers beim Diabetes oder zahlreiche Kontrolluntersuchungen. Methodisch gibt es daher keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen prognostisch wirksamer klinischer Medizin und tertiärer Prävention. Auch bei pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten können noch präventive Potenziale bearbeitet werden (A-L-M), z. B. durch Sturz- oder Dekubitusprophylaxe.

Ein spezielles Problem entsteht, wenn im Zuge präventiver Intentionen die klinische Manifestationsschwelle medizinisch neu definiert, d. h. gesenkt wird, z. B., wenn eine eingeschränkte Glukosetoleranz als prädiabetische Störung klassifiziert und wie eine eigene Krankheit diagnostiziert und behandelt wird. Es müssen dann mehr Menschen Tests und Interventionen angeboten werden. Bei der eingeschränkten Glukosetoleranz allerdings reicht in diesem Stadium eine Änderung des Lebensstils aus, es muss nicht medikamentös behandelt werden. Und die entsprechende Umstellung des Lebensstils ist ohnehin jedermann zu empfehlen. Auch bei manifestem Diabetes ist eine Aktivierung des Patienten, z. B. durch eine individualisierte Verlaufskontrolle, im Hinblick auf Gewichtsverlust und eine Verbesserung der Stoffwechsellage wirksam.

Von quartärer Prävention spricht man, wenn Patientinnen, Patienten oder Versicherte vor Überdiagnostik, Übertherapie und Medikalisierung geschützt werden sollen. Quartäre Prävention ist eine Aufgabe für die Versicherten selbst und für alle medizinischen Berufe, besonders aber für Hausärzte, die die Versorgung koordinieren (Fischer 1992), und für die evaluierende Versorgungsforschung.

Risikohöhe und Interventionsintensität

Es ist plausibel, dass Art und Intensität der Intervention von der Höhe des Risikos abhängen sollten. Je höher das Risiko, desto intensiver und auch risikospezifischer ist die Intervention. Das entspricht dem deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Maßnahmen, die sich an die Allgemeinbevölkerung richten, können nicht besonders intensiv und dürfen nicht nebenwirkungsträchtig sein (z. B. Empfehlungen zur gesunden Ernährung, Tabak-Verkaufsverbot an Jugendliche). Hochrisikogruppen brauchen eine intensive Ansprache bis hin zu präventiver Medikation, z. B. blutdrucksenkende Medikamente.

Man würde denken, dass medizinische Prävention vor allem solche „indizierte Prävention“ ist. Das ist aber nicht notwendigerweise so. Kinderärzte werden z. B. für eine Impfberatung in Kindereinrichtungen zur Verfügung stehen. Auch Hochrisikogruppen brauchen unterstützende Verhältnisprävention (z. B. ein Umfeld ohne Tabakwerbung für rückfallgefährdete Ex-Raucher; ein kalorienreduziertes Essensangebot in Kantinen für Übergewichtige oder ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze zur Verhältnisprävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen).

Der englische Epidemiologe G. Rose (1992) hat darauf aufmerksam gemacht, dass aus Sicht der Gesamtbevölkerung das größte präventive Potenzial nicht in der relativ kleinen Bevölkerungsgruppe mit besonders hohem Risiko liegt, sondern in der relativ großen Gruppe mit mittlerem Risiko (Präventionsparadox). Insofern wären Medizin oder Krankenversicherung schlecht beraten, nur auf Prävention in Hochrisikogruppen zu setzen. Darüber hinaus sagt die Höhe eines Risikos per se nichts über die Beeinflussbarkeit des Risikos.

Für die Ausrichtung und die Intensität einer Risikointervention ist der mögliche Nettonutzen entscheidend (d. h. der gesundheitliche Nutzen abzüglich der in Kauf zu nehmenden unerwünschten Wirkungen und der Kosten). Insofern kann man zwischen dem Bereich geringen Risikos mit geringem Nettopotenzial („nicht handlungsrelevant“) und dem Bereich hohen Risikos mit hohem Nettopotenzial („indiziert“) einen mittleren Bereich als „präferenzbasiert“ charakterisieren, in dem Bürgerinnen und Bürger sowie Leistungserbringer die Risikoeinschätzung abwägen (Risikokommunikation) und die präventiven Maßnahmen vereinbaren, die ihnen gemeinsam sinnvoll und machbar erscheinen (Abbildung 2). Als „indiziert“ muss z. B. eine sofortige Blutdrucksenkung bei krisenhaft hohen Blutdruckwerten gelten. Je geringer der gemessene Blutdruck, desto eher ist die Intervention präferenzbasiert. Diese Abwägungen hängen vom Vorhandensein weiterer Risikofaktoren ab und befinden sich ständig im Fluss.

Es wird oft vermutet, dass Präventionsmaßnahmen Einsparungen ermöglichen. Allerdings amortisieren sich nur etwa 20 % der präventiven Maßnahmen auf Ebene der Krankenkassen oder der Gesellschaft, der größere Teil ist als Investition in bessere Gesundheit anzusehen. Das Verhältnis von Kosten zu Wirkung ist bei Präventionsmaßnahmen ungefähr so verteilt wie bei Maßnahmen der kurativen Medizin (Cohen, Neumann & Weinstein 2008).

Betriebliche Prävention amortisiert sich dagegen. Der iga.Report 28 „Wirksamkeit und Nutzen betrieblicher Prävention“ gibt eine Übersicht über belastbare Erkenntnisse aus den Jahren 2006 bis 2012 zur Wirksamkeit und dem Nutzen betrieblicher Prävention und Gesundheitsförderung. Die in der Übersicht herangezogenen Studien weisen insgesamt auf einen positiven Return on Investment (ROI) hin, z. B. für die Senkung krankheitsbedingter Fehlzeiten bei 1:2,73 (vgl. Bräunig et al. 2015).

Medizinische Präventionsmaßnahmen

Die obere Hälfte der Abbildung auf Seite A1810 im Artikel „Risikoabschätzung tödlicher Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Die neuen SCORE-Deutschland-Tabellen für die Primärprävention“ (Keil et al. 2005) quantifiziert das Risiko, in den nächsten zehn Jahren an einer Herz-Kreislauf-Krankheit zu versterben. Der Aufbau der Tabelle illustriert das Zusammenwirken von fünf Risikofaktoren: Geschlecht und Alter als nicht modifizierbare Risikodeterminanten, Cholesterin, Blutdruck und Raucherstatus als modifizierbare Faktoren. Ein 65-jähriger Nichtraucher mit einem systolischen Blutdruck von 140mm Hg und einem Gesamtcholesterin von 190 mg/dl hat ein Risiko von 6 %, ein sonst gleich belasteter Raucher von 12 % usw. Obwohl die drei genannten Risikofaktoren reversibel sind, gilt allerdings nicht notwendig der Umkehrschluss, dass ein Raucher mit den genannten Werten sein Risiko genau halbiert, wenn er aufhört zu rauchen.

Die Farbkodierung der Tabelle enthält eine Handlungsaufforderung: „Diejenigen Personen, die ein Risiko von 5 % und darüber aufweisen oder dieses Risiko im mittleren Lebensalter erreichen werden, gelten als Hochrisikopersonen und sollten besonders intensiv beraten, beobachtet und gegebenenfalls auch medikamentös behandelt werden“ (Keil, Fitzgerald, Gohlke, Wellmann & Hense 2005). Diese Handlungsaufforderung entstammt einem Expertenkonsens. Sie impliziert, ohne dass dies thematisiert oder problematisiert wird, eine Kosten-Wirksamkeits-Abwägung, d. h. sie disponiert Mittel der Solidargemeinschaft und ordnet einem geretteten Leben einen Preis zu. Eine solche Zuordnung ist letztlich unvermeidlich, aber sie steht nicht (wohlmeinenden) Expertinnen und Experten, sondern − soweit ein Präventionsschema für eine Versichertengemeinschaft entwickelt wird − der Versichertengemeinschaft und − soweit darüber hinaus eine individuelle Güterabwägung zu leisten ist − dem Versicherten selbst zu. Außerdem ist nicht gewährleistet, dass diese Abwägung zwischen Leistungsbereichen des Gesundheitswesens einigermaßen konsistent getroffen wird, dass also z. B. in der Krebsfrüherkennung ähnliche Kosten-Wirkungs-Relationen für akzeptabel gehalten werden wie in der Herz-Kreislauf-Prävention.

Eine besser strukturierte Entscheidungshilfe bekommen Hausärztin bzw. Hausarzt und Patientin bzw. Patient z. B. durch eine Software wie „arriba“ (www.arriba-hausarzt.de), die auf Grundlage des individuellen Risikoprofils eine Risikoprognose für Herzinfarkt und Schlaganfall in den nächsten zehn Jahren errechnet und die zu erwartenden Effekte verschiedener Behandlungen quantifiziert. Dieses Effektprofil dient als Beratungsgrundlage in einem Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung. In diesem Prozess sollen der Arzt oder die Ärztin die abstrakten Begriffe „Risiko” und „Prozent” vermeiden. Stattdessen sollen die Zusammenhänge in „natürlichen Häufigkeiten“ anschaulich gemacht werden: „Stellen Sie sich 100 Doppelgängerinnen von Ihnen vor, welche dasselbe Alter, denselben Blutdruck, dasselbe Cholesterin usw. haben wie Sie. Von diesen werden in zehn Jahren drei einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden“.

In den Vereinigten Staaten werden medizinische Präventionsmaßnahmen von der fachlich unabhängigen United States Preventive Services Task Force (USPSTF) nach evidenzbasierten Kriterien standardisiert bewertet. Die Sammlung ihrer Empfehlungen umfasst (2022) 103 präventive Maßnahmen, von „Screening auf Aortenaneurysma“ (Erweiterung der Hauptschlagader) bis „Vitamineinnahme zur Vorbeugung gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs“ (www.uspreventiveservicestaskforce.org). Nur ein Teil der Maßnahmen wird nachdrücklich empfohlen. Von zahlreichen Maßnahmen wird begründet abgeraten, darunter die präventive Einnahme von Vitaminen. Manche Präventionsmaßnahmen sind (noch) nicht ausreichend beurteilbar. Als nicht beurteilbar wird z. B. der Nettonutzen eines Screenings auf erhöhten Augeninnendruck bei symptomlosen Erwachsenen klassifiziert. Deswegen wird diese Leistung in der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Recht nicht als Präventionsmaßnahme vorgesehen. Dennoch wird sie von Augenärzten gegen private Bezahlung („IGeL“) angeboten (siehe www.IGeL-Monitor.de). Wenn ein Nettonutzen nicht in Aussicht gestellt werden kann, sind präventive Leistungen jedoch weder ethisch vertretbar noch sollten sie als präferenzbasiert vermarktet werden.

Prävention in der Gesetzlichen Krankenversicherung

Wenn medizinische Prävention nicht als Privatleistung abgerechnet werden soll, muss sie in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung integriert werden. Die Bismarck´sche Krankenversicherung hatte keinen Präventionsauftrag: Arbeitsunfähigkeit (Lohnersatz als primäre Leistung) und Hilfe bei Krankheit konstituierten den „Leistungsfall“. Das Sozialgesetzbuch V in der Fassung des Präventionsgesetzes 2015 (Präventionsgesetz) gibt den Versicherten einen Anspruch auf Verhütung von Krankheiten und von deren Verschlimmerung (§ 11), Schutzimpfungen (§ 20i), auf Verhütung von Zahnerkrankungen (§§ 21, 22, 22a), auf medizinische Vorsorgeleistungen (§§ 23, 24) sowie zur Erfassung gesundheitlicher Risiken und zur organisierten Früherkennung von Krankheiten (§§ 25, 25a, 26), darunter eine schriftliche Empfehlung für Leistungen zur verhaltensbezogenen Prävention (§ 25 Absatz 1).

Für Leistungen zur Früherkennung hat der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinienkompetenz (§ 92 SGB V). Eine Krankenkasse sieht in ihrer Satzung Leistungen vor „zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung)“ (§ 20 SGB V). Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen legt dafür Handlungsfelder und Kriterien fest (§ 20 Absatz 2 SGB V). Im Übrigen gilt § 1 SGB V: „Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken.“

Prävention in der Gesetzlichen Unfallversicherung

Das Unfallversicherungsgesetz von 1884 hat bereits für die gesetzliche Unfallversicherung als Versicherung gegen Arbeitsunfälle und später gegen Berufskrankheiten den Präventionsauftrag zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vorgesehen. Dieser Präventionsauftrag wurde mit Ergänzung der arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in das SGB VII von 1997 übernommen. Nach § 1 SGB VII hat die gesetzliche Unfallversicherung die Aufgabe „mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten“. Im Grundsatz der Prävention in § 14 SGB VII heißt es in Absatz 1 und 2: „Die Unfallversicherungsträger haben mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefährdungen und für eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Bei der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren arbeiten die Unfallversicherungsträger mit den Krankenkassen zusammen.“ (§ 14 Absatz 1 und 2 SGB V)

Medizinische Prävention und Gesundheitsförderung

Wenn Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten beraten, ermutigen und befähigen, geeignete präventive Maßnahmen selbst umzusetzen und zu kontrollieren, kann man von Gesundheitsförderung durch medizinische Leistungserbringer sprechen. Insbesondere präventive Maßnahmen, die nicht „verordnet“ werden können, gehören dazu: die Umstellung der Ernährung, mehr körperliche Aktivität, eine Reduktion von emotionalen Belastungen im Alltag sowie im Arbeitsleben. Aber auch eine Asthmaschulung, die einen chronisch Kranken zu einer Selbststeuerung seiner Medikation befähigt, oder Rückenschulen bei rückenbelastenden Tätigkeiten am Arbeitsplatz, sind ein Akt der Gesundheitsförderung.

In diesem Sinn kann man auch einen Teil der Rehabilitationsmaßnahmen, die Betroffenen helfen, ein höheres Maß an Kontrolle über ihre gesundheitliche Lage zu gewinnen, als Gesundheitsförderung einstufen. Prävention, Gesundheitsförderung, kurative Medizin und Rehabilitation sind daher keine Gegensätze, sondern ergänzen und verstärken einander.

Literatur:

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Cohen, J. T., Neumann, P. J. & Weinstein, M. C. (2008). Does preventive care save money? Health economics and the presidential candidates. N Engl J Med, S. 358−661.

Fischer, G. C. (1992). Schutz vor medizinischer Überversorgung. Z Allg Med;72, S. 1.012−1.015.

Flatten, G., Berghof, B., Meye, M. R. (1988). Prävention − Eine bewährte Strategie ärztlichen Handelns. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Köln.

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Letzel, S., Nesseler, T., Nowak, D. & Drexler, H. (2014). Maßnahmen für die psychische Gesundheit im Betrieb und Verantwortlichkeiten aus Sicht der DGAUM. Psychische und Psychosomatische Gesundheit in der Arbeit: Wissenschaft, Erfahrungen und Lösungen aus Arbeitsmedizin, Arbeitspsychologie und Psychosomatischer Medizin. Zugriff am 21.05.2022 unter www.dgaum.de/fileadmin/pdf/Stellungnahmen_und_Positionspapiere/2014/Letzel_et._al._2014_DGAUM_Massnahmen_psychische_Gesundheit_6_.pdf.

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Gesetze und Verordnungen:

Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – SGB V vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477, 2482), zuletzt geändert 18. März 2022 (BGBl. I S. 473). Zugriff am 21.05.2022 unter www.gesetze-im-internet.de/sgb_5.

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – SGB VII vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254), zuletzt geändert 10. Dezember 2021 (BGBl. I S. 5162). Zugriff am 21.05.2022 unter www.gesetze-im-internet.de/sgb_7.

Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit – ASiG vom 12.12.1973 (BGBl. I S.1885), zuletzt geändert 20.4.2013 (BGBl. I S.868). Zugriff am 21.05.2022 unter www.gesetze-im-internet.de/asig/BJNR018850973.html.

Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit – ArbSchG vom 07.08.1996 (BGBl. I S.1246) zuletzt geändert 18.3.2022 (BGBl. I S.473). Zugriff am 21.05.2022 unter www.gesetze-im-internet.de/arbschg/BJNR124610996.html.

Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge – ArbMedVV vom 18.12.2008 (BGBl. I S.2768), zuletzt geändert 12.7.2019 (BGBl. I S.1082). Zugriff am 21.05.2022 unter www.gesetze-im-internet.de/arbmedvv/__3.html.

Unfallversicherungsgesetz − Deutsches Reichsgesetzblatt, Band 1884, Nr. 19, Seite 69 - 111 (Fassung vom 6. Juli 1884).

Internetadressen:

arriba / Gemeinsam entscheiden: www.arriba-hausarzt.de

IGeL-Monitor: www.igel-monitor.de

USPSTF Guide to clinical preventive services: www.uspreventiveservicestaskforce.org

Verweise:

Betriebliche Gesundheitsförderung, Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Prävention und Krankheitsprävention, Präventionsgesetz, Präventionsparadox, Risikokommunikation, Settingansatz/Lebensweltansatz