Gesundheitspolitik

Susanne Hartung , Anja Dieterich , Rolf Rosenbrock

(letzte Aktualisierung am 17.04.2020)

Zitierhinweis: Hartung, S., Dieterich, A. & Rosenbrock, R. (2020). Gesundheitspolitik. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i058-2.0

Zusammenfassung

Gesundheitspolitik umfasst die Gesamtheit der staatlichen und nicht staatlichen Anstrengungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf bevölkerungs- bzw. gruppenbezogene Interventionen zur Förderung, Erhaltung und (Wieder-)Herstellung von Gesundheit sowie zur Bewältigung von Krankheit und ihrer Folgen. In der expliziten Gesundheitspolitik im engeren Sinne geht es um die Frage, ob und wie Programme, Strukturen und Prozesse für die Prävention, Gesundheitsförderung, Krankenversorgung sowie Rehabilitation durchgeführt werden. Eine konzeptionell wünschenswerte gesundheitsförderliche Gesamtpolitik ist auch mit dem Präventionsgesetz noch lange nicht umgesetzt. Zudem gibt es aktuelle Herausforderungen sowohl für die Steuerung des deutschen Gesundheitssystems als auch für die internationale politische Zusammenarbeit für Gesundheit.

Schlagworte

Krankenversicherung, Gesundheitssystem, Zugang zu Gesundheitsleistungen, Gesundheitswissenschaften, Public Health, Prävention, Gesundheitsförderung, Kuration/Krankenversorgung


Die Gesundheitswissenschaften/Public Health einschließlich der Medizin versuchen Antworten auf die Frage „Was ist gut und was ist schlecht für die Gesundheit?“ zu geben (Kolip/Razum 2020). In der Gesundheitspolitik geht es um das „Ob“ und „Wie“ der Umsetzung dieser Erkenntnisse in Programmen, Strukturen und Prozessen (policy) sowie um die auf dem Weg zur Umsetzung stattfindenden Auseinandersetzungen (politics) im Rahmen der dafür maßgeblichen Normen, Institutionen und kulturellen Orientierungen (polity).

Gesundheitspolitik ist demnach die Gesamtheit der – keineswegs nur staatlichen – Anstrengungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf bevölkerungs- bzw. gruppenbezogene Interventionen zur Förderung, Erhaltung und (Wieder-)Herstellung von Gesundheit sowie zur Bewältigung von Krankheit und ihrer Folgen. Wesentliche Elemente der Gesundheitspolitik sind Zielformulierung, Finanzierung, Maßnahmengestaltung, Qualitätssicherung und -entwicklung (Public Health Action Cycle/Gesundheitspolitischer Aktionszyklus). Dazu gehört auch die Gestaltung, Steuerung, Qualifizierung und Finanzierung der damit befassten Institutionen und Berufsgruppen. (Rosenbrock/Gerlinger 2014)

Theorie und Praxis der Gesundheitspolitik

Das normative Ziel von Gesundheitspolitik ist die Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung. Das schließt Interventionen zur Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten (Prävention und Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung) durch Minderung pathogener Belastungen und die Förderung salutogener Ressourcen (Salutogenetische Perspektive) ebenso ein wie die Gestaltung und Steuerung der Krankenversorgung einschließlich der Rehabilitation. Wie in der Medizin soll dabei eine Maßnahme nur dann ergriffen werden, wenn die erwünschten Wirkungen hinreichend sicher eintreten und mögliche unerwünschte Wirkungen eindeutig übertreffen oder die unerwünschten Wirkungen insgesamt tolerabel sind. Darüber hinaus sollen die Grundsätze der Selbstbestimmung des Individuums (z. B. durch Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger), des Schutzes der Benachteiligten (ggf. durch „positive Diskriminierung“, Zielgruppenorientierung) sowie von Empowerment (von Individuen und von Gruppen, durch eine ermöglichende professionelle Haltung) gelten.

Gesundheitspolitik findet dort statt, wo durch die Gestaltung von Verhältnissen, Verhaltensbedingungen oder Verhaltensanreizen populationsbezogen Wahrscheinlichkeiten von Erkrankung, ihre Progredienz und Chronifizierung sowie Bewältigung oder krankheitsbedingter Einschränkung der Lebensqualität und vorzeitigem Tod gesundheitsförderlich beeinflusst werden sollen.

Konzeptionell ist eine umfassende gesundheitsförderliche Politik, verstanden als die Beeinflussung der Determinanten von Gesundheit durch eine Zusammenarbeit verschiedener Politikbereiche (health in all policies, „implizite“ Gesundheitspolitik, intersektorale Politik) wünschenswert. Mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (WHO 1986) wurde Gesundheit als ein Querschnittsthema definiert, das eine Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik/Healthy Public Policy erfordert. Seitdem haben auch in Deutschland Bemühungen um nichtmedizinische Primärprävention und Gesundheitsförderung an Kraft und Vielfalt gewonnen und werden von einer Vielzahl staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen und Organisationen getragen. Nachdem sich in der öffentlichen Diskussion Gesundheitspolitik langjährig auf Fragen der Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung reduzierte, haben inzwischen Prävention und Gesundheitsförderung an Bedeutung gewonnen. Erkennbar ist dies z. B. an dem nach jahrzehntelangem Ringen 2015 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG).

Dennoch löst die in der Praxis vorgefundene Gesundheitspolitik den Anspruch einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik kaum ein. Relevante Politikbereiche einer impliziten Gesundheitspolitik, wie z. B. Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Verkehrspolitik oder Armutsbekämpfung, die wirksamer wären als Gesundheitspolitik im engeren Sinne (oder explizite Gesundheitspolitik, die innerhalb des Sozialgesetzbuchs V geregelt ist) setzen bisher eine umfassende Health in all Policies-Strategie nur zögerlich um (Gesundheitsförderung 5: Deutschland) (Kickbusch/Hartung 2014). Auch im engeren Handlungsfeld der Organisation des Gesundheitssystems ist zu beachten, dass Gesundheitspolitik einen relevanten Wirtschaftszweig (über 10 % des Bruttoinlandsprodukts) mit sehr heterogenen Akteuren und vielen in dieses Politikfeld involvierten Interessen reguliert. Im Vergleich zu anderen Feldern der Sozialpolitik führt die hohe Komplexität der Formulierung und Umsetzung von Gesundheitspolitik dazu, dass nicht immer gesundheits- und gemeinwohl-bezogene Problemlösungen im Vordergrund stehen. Gesundheitspolitische Entscheidungen werden häufig von spezifischen (Wirtschafts-, Status-, etc.) Interessen überlagert.

Gesundheitspolitik zur Organisation des Gesundheitssystems

Gesundheitspolitik im engeren Sinn oder explizite Gesundheitspolitik umfasst diejenigen Regelungen und Interventionen, die sich auf die Organisation von Dienstleistungen für Kranke und Gesunde im Rahmen des Gesundheitssystems beziehen.

Im deutschen Gesundheitswesen findet sich eine Mischung aus staatlichen, verbandlichen (korporatistischen) und marktlichen Steuerungselementen. Im Gesundheitssystem ist eine Vielzahl an Akteuren mit eigenen Interessen tätig, u. a. Krankenkassen, Ärztinnen und Ärzte, Versicherte, Patientinnen und Patienten, Pflegepersonal, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller und Medizintechnikunternehmen. (Simon 2017; Schwartz et al. 2012).

Seit 2009 besteht in Deutschland eine Versicherungspflicht für alle Personen. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als Teil der sozialen Sicherung versichert ca. 90 % der Wohnbevölkerung. Die im 19. Jahrhundert wesentlich von Bismarck unter Berücksichtigung der katholischen Soziallehre und der protestantischen Leistungsethik konzipierte GKV beruht auf einem Steuerungsmodell, das auf fünf Grundentscheidungen aufbaut:

  • Der Staat übernimmt die Verantwortung für die materielle Bewältigung gesundheitlicher und sozialer Notlagen, er fungiert gewissermaßen als Ausfallbürge.
  • Zugleich entlastet sich der Staat weitgehend von Steuerungs- und Gestaltungsaufgaben in der GKV durch Delegation nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung: Die konkrete Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung erfolgt durch Krankenkassen. Diese sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts weder unmittelbar staatliche Einrichtungen, noch gehen sie einem privaten Erwerbszweck nach. Sie sind vielmehr als „mittelbare Staatsverwaltung“ einem gesetzlich definierten, öffentlichen Auftrag verpflichtet. In dieser Funktion haben sie durch ihre Selbstverwaltungsorgane, zusammengesetzt aus Versicherten und Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Entscheidungskompetenzen z. B. im Hinblick auf organisationbezogene Fragen, satzungsmäßige Mehrleistungen oder die Festlegung des Beitragssatzes. Hiervon zu unterscheiden ist die Gemeinsame Selbstverwaltung: Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenhausgesellschaften arbeiten hier auf Bundesebene und in gemeinsamer Verantwortung zur Konkretisierung gesetzlicher Rahmenvorgaben zur Gesundheitsversorgung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zusammen.
  • Die Beiträge werden nicht nach dem individuellen Risiko, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (in Form eines festen Prozentsatzes vom Bruttoeinkommen) erhoben (Solidarprinzip). Sie sind seit 2019 wieder paritätisch von den Versicherten und von den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zu zahlen. Dadurch entsteht ein dauernder Ausgleich nicht nur zwischen Gesunden und Kranken, sondern auch zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Männern und Frauen, Alleinlebenden und Familien. Ein Sonderstatus kommt dabei Beschäftigten mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, Selbstständigen sowie Beamtinnen und Beamten zu, für die es günstiger ist, sich privat zu versichern und die dadurch nicht am Solidarprinzip teilnehmen. Diese Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems, dass für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Möglichkeit zur privaten Krankenvollversicherung (PKV) besteht, ist Gegenstand gesundheitspolitischer Auseinandersetzungen.
  • Im direkten Verkehr zwischen Trägerinnen und Trägern der Krankenversorgung und Patientinnen und Patienten soll Geld keine Rolle spielen, auch ist die GKV mit ihrer Nachfragemacht (und nicht der Patientinnen und Patienten) Vertragspartnerin der Leistungserbringer und damit auch zuständig für die Umsetzung des Leistungskatalogs und die Qualitätssicherung (Sachleistungsprinzip).
  • Inhalt, Mengen und Preise der Leistungen des Krankenversorgungssystems werden in Verhandlungen zwischen den Verbänden der Leistungserbringenden und den Krankenkassen festgelegt (Gemeinsame Selbstverwaltung, Korporatismus). Kommen sie nicht zu einer Einigung, entscheidet der Staat.

Trotz vielerlei Modifikationen und Beschädigungen hat sich dieses Modell als außerordentlich robust und entwicklungsfähig erwiesen, steht aber unter dauerndem Veränderungsdruck (Reiter 2017). Dabei werden immer wieder marktförmige und die Solidarität untergrabende Systemwechsel diskutiert. Zu beobachten ist eine sich andeutende Annäherung (Konvergenz) der Versicherungssysteme durch Reformen der jüngeren Vergangenheit – mit ambivalenter Bedeutung: einerseits die Einführung von GKV-Prinzipien in die PKV (z. B. Einführung eines obligatorischen Basistarifs) und andererseits Privatisierungstrends in der am Grundprinzip der Solidarität orientierten GKV.

Der Präventionsauftrag

Die GKV hat seit 1989 einen begrenzten und mehrfach modifizierten Präventionsauftrag. Nach mehreren Anläufen (2005 und 2008) ist es mit dem im Juni 2015 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) (Gesundheitsförderung 5: Deutschland) gelungen, dem Regelungsbedarf im Hinblick auf Zuständigkeiten, Finanzierung, Qualitätssicherung und -entwicklung in der Prävention und Gesundheitsförderung durch ein Bundesgesetz Rechnung zu tragen. Damit wurde diesem zentralen Feld einer nachhaltigen Gesundheitspolitik mehr Bedeutung verliehen, die nun aber noch stärker praktisch umgesetzt werden muss. Das Präventionsgesetz zielt insbesondere auf die Stärkung gesundheitsförderlicher Lebenswelten durch kommunale Gesundheitsförderung, die als intersektorale und ressortübergreifende Zusammenarbeit verstanden wird und einem integrierten Handlungskonzept folgen soll. Die Krankenkassen sollen hierfür zusammenarbeiten.

Ein Rahmen für diese abgestimmte Zusammenarbeit ist das GKV-Bündnis für Gesundheit, eine gemeinsame Initiative der gesetzlichen Krankenkassen. Das GKV-Bündnis für Gesundheit hat das Ziel, die Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten zunächst durch die Förderung von Strukturaufbau und Vernetzung sowie durch die Analyse von empfehlenswerten gesundheitsförderlichen Konzepten zu unterstützen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist durch den GKV-Spitzenverband gemäß § 20a Abs. 3 und 4 SGB V mit der Umsetzung der Aufgaben des GKV-Bündnisses beauftragt.

Aktuelle Herausforderungen deutscher Gesundheitspolitik

Im Hinblick auf die Organisation und Finanzierung der Krankenversorgung existieren in der Gesundheitspolitik die Alternativen „staatlich-steuerfinanziert“ (v. a. Skandinavien, Großbritannien), „beitragsfinanzierte Sozialversicherung“ (v. a. Zentraleuropa einschließlich Deutschland) und „marktwirtschaftlich“ (v. a. USA). Kein System besteht in reiner Form. Nur primär staatliche Systeme mit einem Sozialversicherungssystem haben bislang die Zivilisationsstufe erreicht, auf der jeder Mensch unabhängig von seinem sozialen Status und seinen finanziellen Ressourcen Zugang zu einer vollständigen und qualitativ hochwertigen medizinischen Krankenversorgung haben soll.

Doch auch in Deutschland ist das Recht auf Gesundheit, dem sich Deutschland völkerrechtlich u. a. mit dem UN-Sozialpakt verpflichtet hat, noch nicht vollständig gewährleistet. Trotz Einführung der Versicherungspflicht gibt es immer noch Menschen, die keine Krankenversicherung haben oder von Zugangsbarrieren betroffen sind, z. B. Menschen mit hohen Schulden, Obdachlose, sowie verschiedene Gruppen von Migrantinnen und Migranten. 2015 hatten nach den Daten des Mikrozensus 80.000 also 0,1% der Bevölkerung keinen Krankenversicherungsschutz (Statistisches Bundesamt 2016). Es ist von einer vielfach höheren Dunkelziffer auszugehen. Laut Schätzungen lebten im Jahr 2014 z. B. zwischen 180.000 und 520.000 Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus und entsprechend ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland (Vogel 2016).

Ungelöst ist v. a. das Steuerungsproblem, dass die für die Akutversorgung gewachsenen Strukturen und Prozesse der Gesundheitsversorgung den Notwendigkeiten der weiter zunehmenden Dominanz chronischer Erkrankungen immer weniger gerecht werden (Kritisiert wird neben der unzureichenden Koordination und Teilhabeorientierung insbesondere die Dominanz der Interessen der Leistungsanbieter (z. B. Pharmaindustrie) im System. Zum Teil behindert bzw. blockiert die Arztzentrierung die Wirkungsmöglichkeiten anderer Gesundheitsberufe (v. a. Pflege, Sozialarbeit) und auch der Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung. Beispielhaft deutlich werden solche Dysfunktionalitäten z. B. an jüngeren Reformen wie der Einführung von Fallpauschalen (DRG) zur Vergütung im Krankenhaus, die die genannten Probleme eher verschärfen statt zu ihrer Lösung beizutragen, z. B. im Sinne verstärkter Anstrengungen in Richtung sektorenübergreifender Hilfeleistungen, die verbindlich auch über das SGB V hinausgehen (Dieterich et al. 2019).  

Erschwert werden Reformversuche zur Verringerung bzw. Lösung dieser Probleme v. a. durch drei übergeordnete Trends:

  • Infolge einer kontinuierlichen Abnahme des Anteils der Lohn- und Gehaltseinkommen am Bruttoinlandsprodukt steigen die Versicherungsbeiträge, die v. a. im Hinblick auf die Beitragsanteile der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber (Arbeitskosten, „Lohnnebenkosten“, „Standortsicherung“) thematisiert werden. Die durch die Alterung der Bevölkerung und des medizinisch-technischen Fortschritts auftretenden Kostensteigerungen können grundsätzlich als im GKV-System beherrschbar angesehen werden. Dennoch verstärkt sich die Tendenz, die Kosten durch Streichung auch medizinisch notwendiger Leistungen, also durch Rationierung, bzw. durch erhöhte Direktzahlungen der Patientinnen und Patienten zu senken. Sozial benachteiligte Gruppen, die ohnehin ein wesentlich erhöhtes Erkrankungsrisiko aufweisen, werden dadurch weiter benachteiligt.
  • Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts werden dem Markt und der wirtschaftlichen Konkurrenz in den dominanten Sektoren von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nahezu unbegrenzte Problemlösungskapazitäten zugeschrieben. In der Gesundheitspolitik einschließlich der Prävention besteht das zentrale Verteilungsproblem aber darin, dass Menschen mit der geringsten Kaufkraft zugleich auch den höchsten Bedarf an Gesundheitsleistungen haben, weshalb Marktsteuerung in einem grundsätzlichen Konflikt mit dem Ziel der Chancengleichheit (equity) steht.
  • Schließlich spielen für die Weiterentwicklung gemeinwohl- und teilhabeorientierter Gesundheitsdienstleistungen aktuelle Diskurse zur Evidenzbasierung oder Wirkungsorientierung eine ambivalente Rolle: Die Orientierung der Praxis an empirischer Forschung kann der Professionalisierung der Fachkräfte dienen und deren Arbeit legitimieren. Eine solche fachliche Reflexion erfordert eine differenzierte, auch forschungsmethodologisch breit angelegte Wissensbasis. Wenn jedoch der Ansatz der Evidenzbasierung mit einem verwaltungstechnischen Programm wettbewerbsorientierter und an Kosten-Nutzen-Kriterien ausgerichteter Steuerung verbunden wird, droht eine Einengung professioneller Praxis und ihrer Ermessensspielräume. Partizipatives und an Empowerment orientiertes professionelles Handeln kann dazu führen, dass nicht immer diejenigen Maßnahmen ausgewählt werden, die nach dem im Gesundheitssystem dominierenden naturwissenschaftlichen, quantitativ-statistischen Forschungsparadigma bereits auf ihre Effizienz und Effektivität untersucht worden sind. Hier ist Wirkungsforschung nötig, die Faktoren wie die Beteiligung der Adressatinnen und Adressaten, fallspezifische Kontexte und die Komplexität von Entscheidungsfindungen mitberücksichtigt, statt letztere auf standardisierte Handlungsanleitungen zu reduzieren. Nur so können z. B. sozialraumbezogene, systemische Interventionen, die in Handlungsfeldern wie der Primärprävention oder der sektorenübergreifenden Versorgung fachlich als hochplausibel und erstrebenswert gelten, in ihrer Wirkung erfasst werden. Die Diskurse um Wirkungsorientierung, die Fragen nach der Wirksamkeit, die Auswahl von Methoden und die Festlegung auf Erfolgsindikatoren sind damit nicht neutral, sondern stehen im engen Zusammenhang zu den jeweiligen aktuellen politischen Interessen wohlfahrtsstaatlicher Steuerung.

Einflüsse internationaler Gesundheitspolitik

Auf eine bessere Politiksteuerung im Sinne der genannten Herausforderungen für Deutschland zielt auch das europäische Rahmenkonzept „Gesundheit 2020“. Mit dessen Hilfe wird versucht, Determinanten zu verändern, um die Gesundheit im nationalen aber auch im europäischen Kontext zu beeinflussen. Die politische Rahmenstrategie sieht eine Zusammenarbeit der europäischen Regierungen vor und hält Gesundheitsministerien dazu an, eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit zusammenzubringen. Auf internationaler Ebene ist weiterhin der WHO-Ansatz der „Essential Public Health Operations“ (EPHOS) (WHO 2020a) mit der Definition von zehn Public Health Kernbereichen zu nennen, mit denen Gesundheit als politische Querschnittsaufgabe konzipiert werden soll. Aktuellen Niederschlag in der nationalen Politik finden solche Strategien z. B. im Vorhaben des Zukunftsforums Public Health. Vom Robert Koch Institut wird dabei die Entwicklung einer nationalen Präventionsstrategie moderiert.

Im Zuge der Globalisierung lässt sich eine verstärkte Bezugnahme nationaler Gesundheitspolitik auf internationale Entwicklungen beobachten, wie z. B. im 2013 beschlossenen Konzept der Bundesregierung für eine Globale Gesundheitspolitik (Bundesministerium für Gesundheit o. J.) und der Stärkung global orientierter zivilgesellschaftlicher Gesundheitspolitik-Akteure z. B. mit dem Aufbau der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit.

Insgesamt ist zur Beurteilung von Chancen und Risiken gesundheitspolitischer Entwicklungstendenzen von der historisch und aktuell vielfach belegten Erfahrung auszugehen, dass Gesundheit zwar ein moralisch stark klingendes Motiv ist, das sich aber in der politischen Auseinandersetzung nur selten gegen konkurrierende Werte wie Gewerbefreiheit, Wirtschaftswachstum etc. durchsetzen kann. Die aktuelle und öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung um den Klimaschutz verdeutlicht dies eindrücklich. Für den Umgang mit dem neuartigen Coronavirus können aktuell noch keine Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Geschichte der Gesundheitspolitik zeigt aber, dass es zu gesundheitspolitischen Fortschritten und zielführenden Innovationen regelmäßig nur dann kommt, wenn sich das Gesundheitsmotiv mit einem anderen, handlungsmächtigeren Motiv (z. B. Produktivität, Bürgerrechte) verbindet und/oder wenn sich starke soziale Bewegungen des jeweiligen Themas annehmen und in möglichst breiten Koalitionen „gegentendenzielle“ Projekte oder Politiken durchsetzen.

Literatur:

Bundesministerium für Gesundheit (o.J.). Globale Gesundheitspolitik gestalten – Gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen. Konzept der Bundesregierung. Zugriff am 25.03.2020 unter www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Globale_Gesundheitspolitik-Konzept_der_Bundesregierung.pdf.
Dieterich, A., Braun, B., Gerlinger, T., & Simon, M. (Hrsg.) (2019). Geld im Krankenhaus – Eine kritische Bestandsaufnahme des DRG-Fallpauschalensystems. Wiesbaden: Springer Verlag.
Kolip, P., & Razum, O. (Hrsg.) (2020). Handbuch Gesundheitswissenschaften. 7., vollständig überarbeitete Auflage, Weinheim: Belz Juventa.
Kickbusch, I., & Hartung, S. (2014). Die Gesundheitsgesellschaft. Konzepte für eine gesundheitsförderliche Politik. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe Verlag.
Reiter, R. (Hrsg.) (2017). Sozialpolitik aus politikfeldanalytischer Perspektive. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer Verlag.
Rosenbrock, R., & Gerlinger, T, (2014). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. 3., vollständig überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe Verlag.
Schwartz, F. W. et al. (Hg.) (2012). Public Health. Gesundheit und Gesundheitswesen. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, München: Urban & Fischer.
Simon M. (2017). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 6., vollständig aktualisierte und überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe Verlag.
Statistisches Bundesamt (2016). Sozialleistungen. Angaben zur Krankenversicherung (Ergebnisse des Mikrozensus). Fachserie 13 Reihe 1.1. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Zugriff am 25.03.2020 unter www.destatis.de/DE/Service/Bibliothek/_publikationen-fachserienliste-13.html
Vogel, D. (2016): Kurzdossier: Umfang und Entwicklung der Zahl der Papierlosen in Deutschland. Universität Bremen. Fachbereich 12. Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung. AbIB-Arbeitspapier 2/2016.
WHO- World Health Organisation Europe (2020a): The 10 Essential Public Health Operations. Zugriff am 25.03.2020 unter www.euro.who.int/en/health-topics/Health-systems/public-health-services/policy/the-10-essential-public-health-operations.
WHO- World Health Organisation Europe (2020b): Über „Gesundheit 2020“. Zugriff am 25.03.2020 unter www.euro.who.int/de/health-topics/health-policy/health-2020-the-european-policy-for-health-and-well-being/about-health-2020.

Internetadressen:

Deutsche Plattform für Globale Gesundheit: https://www.plattformglobalegesundheit.de
GKV-Bündnis für Gesundheit: http://www.gkv-buendnis.de
Zukunftsforum Public Health: https://zukunftsforum-public-health.de

Verweise:

Determinanten der Gesundheit, Empowerment/Befähigung, Gesundheit, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung 5: Deutschland, Gesundheitswissenschaften / Public Health, Krankheit, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Prävention und Krankheitsprävention, Public Health Action Cycle / Gesundheitspolitischer Aktionszyklus, Salutogenese, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung