Lebensweisen/Lebensstile

Dominik Röding

(letzte Aktualisierung am 12.04.2021)

Zitierhinweis: Röding, D. (2021). Lebensweisen/Lebensstile. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i073-2.0

Zusammenfassung

Lebensweisen- und Lebensstilansätze in der Gesundheitsförderung fokussieren die gesundheitsrelevanten Handlungsmuster der Menschen und betonen dabei die Verwobenheit des gesundheitsrelevanten Verhaltens mit den jeweiligen ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen. Interventionen mit diesen Ansätzen müssen – ausgehend von den jeweiligen Lebenswelten – gemeinsam mit den Zielgruppen Veränderungsprozesse gestalten, um zu einer nachhaltigen Verbesserung der Gesundheitschancen aller und insbesondere von sozial benachteiligten Menschen beizutragen.

Schlagworte

Lebensstil, Lebensweise, Gesundheitsverhalten, integrierte Gesundheitsstrategie


Das Lebensweisenkonzept

Das Lebensweisenkonzept ist Ende der 1970er-Jahre aus der Kritik an der medizin- und individuenorientierten Prävention entstanden. Auf institutioneller Ebene stimmte 1981 das Europäische Regionalkomitee der WHO einem neuen Programm mit dem Titel „Lebensweisen und Gesundheitserziehung“ zu. Außerdem wurde „Lebensweise und Gesundheit“ als einer der vier Themenbereiche der damals neuen Regionalstrategie „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“ der WHO (1981) bestimmt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung dieser Programme wurde das Konzept ausgearbeitet und differenziert.

Mit dem Lebensweisenkonzept wurde ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit zum Ausdruck gebracht. Die bis dahin biomedizinisch geprägte Vorstellung, die Krankheiten primär auf physiologische Phänomene oder isolierte gesundheitsschädigende Verhaltensweisen reduzierte, wurde hinterfragt. Dem wurde nun die Vorstellung gegenübergestellt, dass Gesundheit und Krankheit in der Interaktion von biologischen, sozialen, psychologischen und ökonomischen Einflussfaktoren zwischen Individuum und Umwelt entsteht.

Der Begriff Lebensweise stellt diese Interaktion ins Zentrum. Verhalten kann demnach nicht isoliert vom unmittelbaren Lebenskontext oder der Lebenswelt – mithin von den Lebensbedingungen und den individuellen und kollektiven Ressourcen – betrachtet werden. Die Lebensweise repräsentiert und vermittelt immer gleichzeitig eine individuelle und kollektive Entwicklungsgeschichte. So wird die Lebensweise eines Individuums gekennzeichnet durch „die Gesamtheit normativer Orientierungen und Handlungsstrukturen, die im Verlauf seiner Biographie in der kontinuierlichen Auseinandersetzung zwischen Subjekt und gesellschaftlicher bzw. natürlicher Umwelt entwickelt wird. In der Lebensweise kommen subjektive Motivationen sowie Handlungspotentiale zum Ausdruck, die individuell, je nach sozialer Situation, genutzt werden“ (Wenzel, 1983, S. 7).

Mit der Betonung der Bedeutung des gesellschaftlichen Umfeldes für die Entstehung von Gesundheit und Krankheit wurde deutlich, dass nicht nur das Gesundheitswesen für Gesundheit zuständig sein kann, sondern auch andere Sektoren wichtig sind für die Herstellung und den Erhalt von Gesundheit. Aus diesem Verständnis heraus wurden seitdem entsprechende Strategien abgeleitet. Eine davon ist die intersektorale Zusammenarbeit (Präventionskette/Integrierte kommunale Gesundheitsstrategie), die Gesundheit zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe macht. Eng damit verknüpft ist die Strategie der Beeinflussung von Lebenswelten: Wenn Lebensweisen in der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt entstehen, dann werden sie dort entwickelt, wo Menschen wohnen, arbeiten, aufwachsen und ihre Freizeit verbringen. Um diese unterschiedlichen Lebenswelten zusammen mit den Menschen gesundheitsförderlich zu gestalten, wurde der Settingansatz (Settingansatz/Lebensweltansatz) entwickelt.

 

Der verhaltensmedizinische Lebensstilbegriff

Der Lebensstilbegriff in der Gesundheitsförderung wurde anfänglich stark von den Ergebnissen epidemiologischer Bevölkerungsstudien aus den USA der 1970er- und 1980er-Jahre geprägt. Dabei wurde erstmals die Bedeutung verhaltensbasierter Risikofaktoren systematisch nachgewiesen. Im Zuge der weltweiten Publikationen dieser Ergebnisse wurde der englische Begriff Lifestyle auch in den deutschsprachigen Gesundheitswissenschaften populär. In dieser Tradition verwendet, bezieht sich der Lebensstilbegriff überwiegend auf das zeitgleiche Auftreten mehrerer verhaltensbezogener Risikofaktoren in abgrenzbaren Studienpopulationen. Für die Erklärungsmodelle zu Gesundheit führt diese Begriffsauffassung zu einer Verengung auf Verhaltensaspekte und zu einer Vernachlässigung der kulturellen, sozialen und materiellen Handlungskontexte der Menschen. Der so geprägte Lebensstilbegriff wird heute oft in einer „individualisierenden“ Perspektive verwendet, die ihrerseits jedoch mit dem Gesundheitsverständnis der Ottawa-Charta grundsätzlich inkompatibel ist. Nach deren Ausführungen wird Gesundheit in den jeweiligen gesellschaftlichen Alltagskontexten (Lebenswelten) hergestellt. Interventionen müssen demzufolge diese Kontexte berücksichtigen. In der Praxis können Lebensstilansätze ohne die Berücksichtigung der spezifischen Lebensbedingungen der Menschen (geprägt z. B. nach Schicht, Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund) dann sogar zur Verstärkung (statt Abbau) sozialer Ungleichheiten in der Gesundheit führen.

 

Gesundheitsrelevante Lebensstile

Teilweise als Gegenreaktion zu den individualisierten „Lifestyle“-Konzepten wurden seit den 1980er-Jahren theoriebasierte Arbeiten publiziert, die die genannten Schwächen zu vermeiden suchten. Mit Rückgriffen auf soziologische Arbeiten u. a. von Max Weber, Anthony Giddens und Pierre Bourdieu gelang es den neueren Ansätzen zunehmend, Lebensstile als das Zusammenwirken von strukturbasierten Lebensbedingungen und den (kreativen) Auswahl- und Gestaltungsleistungen der Menschen zu verstehen (Röding, 2018).

Vor diesem Hintergrund können heute gesundheitsrelevante Lebensstile definiert werden als „... typische Muster von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, Orientierungen und Ressourcen, die von Individuen in ihrer Auseinandersetzung mit ihren sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Lebensbedingungen entwickelt werden“ (Abel, Buddeberg & Duetz, 2003, S. 297).

  • Das gesundheitsrelevante Verhalten umfasst dabei alle Verhaltensweisen, die für die Gesundheit der Person direkt von Bedeutung sind, wie z. B. Ernährung, Sport, Bewegung und die Inanspruchnahme des medizinischen Systems, aber auch den Konsum von Genuss- und Suchtmitteln.
  • Die gesundheitsbezogenen Orientierungen basieren auf Werten, normativen Vorgaben und Einstellungen, die direkt oder indirekt für die Gesundheit relevant sind und nach denen das Verhalten ausgerichtet wird. Ein Beispiel ist die Frage, inwiefern Gesundheit ein vorrangiges Lebensziel darstellt.
  • Gesundheitsrelevante Ressourcen werden nach individuellen Ressourcen einerseits und sozialen Ressourcen andererseits unterschieden. Mit individuellen Ressourcen sind personengebundene Faktoren wie Wissen und Fähigkeiten gemeint sowie die persönlichen materiellen Mittel, die einem zur Verfügung stehen. Soziale Ressourcen liegen außerhalb des einzelnen Individuums. Sie umfassen u. a. die soziale Unterstützung durch die Familie oder den Freundeskreis sowie die gesundheitsrelevanten äußeren Lebensverhältnisse, so z. B. sichere und gesunde Wohnbedingungen, existenzsichernde Arbeitsplätze, eine bewegungsförderliche Infrastruktur.

Gesundheitsverhalten, Einstellungen und Ressourcen stehen in engem Zusammenhang miteinander und bilden aufeinander abgestimmte Muster. Die Definition gesundheitsrelevanter Lebensstile von Abel, Buddeberg & Duetz, (2003) setzt den handelnden Menschen in das Zentrum, ohne aber einem verhaltenstheoretischen Reduktionismus zu verfallen. Sie verweist zugleich auf die meist schicht-, klassen- oder milieuspezifischen kontextuellen Bedingungen auf Mikro- (z. B. Familien), Meso- (z. B. Schule) oder Makroebene (z. B. Konsumgesellschaft). Diese werden hier als die limitierenden bzw. ermöglichenden strukturellen Bedingungen verstanden.

Gemäß heutiger theoretischer und empirischer Erkenntnisse lässt sich festhalten: Gesundheitsrelevante Lebensstile

  • sind das Produkt von objektiven Lebensbedingungen und dem, was die Individuen daraus machen,
  • erfüllen spezifische Aufgaben für die Gesellschaft, für Gruppen und Individuen (erlauben und repräsentieren z. B. soziale Zugehörigkeiten; dienen der Orientierung in zeitlichen und sozialen Räumen),
  • kommen meist in Mischformen vor, wobei es kleinere Gruppen von konsistent gesundheitsförderlichen und von risikoreichen Lebensstilen gibt,
  • sind insbesondere von den sozialen Faktoren Geschlecht, Alter und soziale Schicht geprägt und
  • sind relativ stabil, jedoch unter bestimmten äußeren Lebensbedingungen auch veränderlich.
     

Umsetzungsaspekte

Für Interventionsansätze im Hinblick auf Lebensweisen und Lebensstile gilt gleichermaßen, dass sie bei den jeweiligen Lebenswelten der Menschen ansetzen müssen. Konkret geschieht dies häufig über einen Zielgruppenansatz innerhalb eines spezifischen geografischen Raumes, wie beispielsweise im Rahmen sogenannter Präventionsketten und integrierter kommunaler Gesundheitsstrategien.

In Deutschland werden Aufbau und Weiterentwicklung integrierter kommunaler Gesundheitsstrategien durch verschiedene Initiativen (z. B. kommunaler Partnerprozess „Gesundheit für alle“ und Gesunde Städte-Netzwerk) gefördert. Der gemeindeorientierte Ansatz der integrierten kommunalen Gesundheitsstrategie basiert auf einem koordinierten Netzwerk aus verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren und administrativen Ressorts sowie aus Einwohnerinnen und Einwohnern der Kommune (Partizipation/Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger). Dabei kommen vor allem auch die Konzepte Vermitteln und Vernetzen, Capacity Building/Kapazitätsentwicklung, gesundheitsfördernde Gesamtpolitik, gesundheitliche Chancengleichheit (Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung/Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit) und Partnerschaften für Gesundheit zum Tragen. Ziel ist es, die Kommune zu befähigen (Empowerment/Befähigung), die Determinanten der Gesundheit vor Ort so zu gestalten, dass die physischen und die psychosozialen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Kommune das Wohlbefinden und die Gesundheit der in ihr lebenden Menschen fördern. So kann z. B. eine städtebauliche Maßnahme in einer Wohnsiedlung über eine Lärmreduktion Wohlbefinden und Gesundheit der Anwohnenden direkt beeinflussen. Dies ist auch indirekt möglich, wenn durch die Maßnahme ein Beitrag zur Förderung eines körperlich aktiven Lebensstils geleistet wird, etwa weil die Anwohnenden nach der Lärmreduktion ihr Wohnumfeld vermehrt für körperliche Freizeitaktivitäten nutzen.

Bei der Planung, Verknüpfung und Umsetzung einzelner Programme, Angebote und Aktivitäten greifen integrierte kommunale Gesundheitsstrategien auf Konzepte wie Lebenslagen und Lebensphasen zurück, um zielgruppenspezifische Bedarfe und Bedürfnisse zu identifizieren und zu adressieren.

Zudem wird vorgeschlagen (z. B. WHO, 2013), Lebensweltansätze mit dem Konzept Health Literacy/Gesundheitskompetenz zu verknüpfen, um Menschen zu motivieren und zu befähigen, ihre Lebenswelten und Lebensweisen gesundheitsförderlich zu gestalten. Ein Beispiel hierfür findet sich in der langfristigen Strategie der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz (2006).

 

Möglichkeiten und Grenzen

Obgleich Lebensweise- und Lebensstilansätze die Verwobenheit des gesundheitsrelevanten Verhaltens mit den Lebensbedingungen betonen, dominieren in der Gesundheitsförderung auch heute noch behavioristische Interventionsansätze. Allerdings findet man zunehmend Interventionsansätze, die diese Verwobenheit berücksichtigen und zudem wirksam sind. So zeigt die Meta-Analyse von Brunton, Caird, Kneale, Thomas & Richardson (2015) zu kommunalen intersektoralen Netzwerke für Gesundheitsförderung, dass deren Effektivität umso höher ist, je stärker die lokalen sozialen Gruppen und Akteure daran partizipieren. Der Unterschied beträgt bei verhaltensbezogenen Outcomes 0,673 Standardabweichungen (mittlerer Effekt) und bei gesundheitsbezogenen Outcomes 0,192 (schwacher Effekt). Eine Meta-Analyse von Courtin, Kim, Song, Yu & Muennig (2020) zeigt, dass frühe Hilfen und bildungsbezogene Interventionen langfristig die Raucherprävalenz um 8 % reduzieren und dass Programme zur Einkommenssicherung und Krankenversicherung die selbsteingeschätzte Gesundheit um 20 % erhöhen.

 

Perspektiven und Empfehlungen

Im deutschsprachigen Raum sind Interventionsansätze, die explizit der Verwobenheit des gesundheitsrelevanten Verhaltens mit den Lebensbedingungen Rechnung tragen (z. B. Präventionskette/Integrierte kommunale Gesundheitsstrategien, Settingansatz/Lebensweltansatz), bislang nur selten hinsichtlich ihrer langfristigen Effekte auf Verhaltens- und Gesundheitsparameter untersucht worden. Es wird empfohlen, dass künftig auch im deutschsprachigen Raum derartige Interventionen regelmäßig summativ evaluiert werden.

Literatur:

Abel, T., Buddeberg, C. & Duetz, M. (2003). Gesundheitsrelevante Lebensstile. In C Buddeberg (Hrsg.), Psychosoziale Medizin (S. 296-306). Heidelberg: Springer.
Brunton, G., Caird, J., Kneale, D., Thomas, J. & Richardson, M. (2015). Review 2: Community engagement for health via coalitions, collaborations and partnerships: a systematic review and meta-analysis. London: EPPI-Centre, Social Science Research Unit, UCL Institute of Education, University College London.
Courtin, E., Kim, S., Song, S., Yu, W. & Muennig, P. (2020). Can Social Policies Improve Health? A Systematic Review and Meta-Analysis of 38 Randomized Trials. In: The Milbank quarterly 98(2), 297–371.
Gesundheitsförderung Schweiz (Hrsg.) (2006). Langfristige Strategie von Gesundheitsförderung Schweiz. Bern: Gesundheitsförderung Schweiz.
Röding, D. (2018). Lebenslagen, Lebensstile und Gesundheit. Theoretische Reflexionen und empirische Befunde. Münster: LIT-Verlag.
Wenzel, E. (1983). Lebensweisen und Gesundheit. In Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [BZgA] (Hrsg.). Europäische Monographien zur Forschung in Gesundheitserziehung 5 (S. 1–17). Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
WHO – World Health Organization (Hrsg.) (2013). Health Literacy. The Solid Facts. Geneva: World Health Organization.
WHO – World Health Organization (Hrsg.) (1981). Global strategy for health for all by the year 2000. Geneva: World Health Organization.

Internetadressen:

Beispiel kommunaler Partnerprozes: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/partnerprozess

Verweise:

Capacity Building / Kapazitätsentwicklung, Empowerment/Befähigung, Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung / Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Partnerschaften für Gesundheit, Präventionskette – Integrierte kommunale Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung und Prävention, Settingansatz/Lebensweltansatz, Vermitteln und Vernetzen

Ich danke Thomas Abel und Brigitte Ruckstuhl für ihre Arbeit an den Vorfassungen dieses Leitbegriffs.