Verwirklichungschancen/ Capabilities

Thomas Altgeld , Uwe H. Bittlingmayer

(letzte Aktualisierung am 04.01.2017)

Zitierhinweis: Altgeld, T. & Bittlingmayer, U. (2017). Verwirklichungschancen/ Capabilities. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i126-1.0


Das Wort Verwirklichungschancen ist die aktuell populärste deutsche Übertragung des englischen Begriffs „Capabilities“. Der so genannte Capabilities-Ansatz, hier entsprechend als Verwirklichungschancen-Ansatz bezeichnet (andere Übersetzungen sind etwa Fähigkeiten-Ansatz, Opportunitäten-Ansatz oder der Befähigungs-Ansatz) wurde in den 1980er und 1990er Jahren vom Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen und der Philosophin Martha Nussbaum entwickelt und bezeichnet zunächst eine allgemeine Theorie sozialer Gerechtigkeit. Sen definiert den Kern des Ansatzes als „die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten („Capabilities“) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (Sen 2000, S. 29). Es geht also vor allem darum, positiv zu bestimmen, was Menschen an realen Freiheiten und materiellen und kulturellen Handlungsressourcen brauchen, um einen autonomen Lebensentwurf begründet entwickeln zu können und dazu befähigt zu werden diesen Lebensentwurf praktisch umsetzen zu können. Der Aspekt der Befähigung und die Orientierung an realen Freiheiten sind der Ausgangspunkt für die deutsche Übersetzung des Capabilities-Ansatzes als Befähigungsgerechtigkeit.

Die enge konzeptionelle Klammer von Ökonomie, Sozialphilosophie und Wohlfahrtsstaatlichkeit und ihre Verbindung zu einer Theorie komplexer sozialer Gleichheit im Verwirklichungschancen-Ansatz macht den Ansatz besonders anschlussfähig für praxis- und interventionsbezogene Wissenschaften wie Public Health oder auch Soziale Arbeit und Sozialpädagogik. Auch für die Theorie und Praxis der Gesundheitsförderung erweist er sich deshalb als relevante Grundierung und Weiterentwicklungsmöglichkeit (hierzu etwa Abel/Schori 2009; Abel/Frohlich 2012; Bittlingmayer/Ziegler 2012; Sahrai/Bittlingmayer 2014). Die Schnittstellen zwischen dem Verwirklichungschancen-Ansatz und der Theorie der Gesundheitsförderung sind zum Teil sogar direkt, weil Sen das WIDER (World Institute for Development of Economic Research) mitbegründete, das Bestandteil der UNU (United Nations University) in Helsinki war. Er führte in den 1980er Jahren mehrere Projekte durch an einer Universität der Vereinten Nationen, in der die 1986 verabschiedete Ottawa-Charta breit diskutiert wurde und dadurch Eingang in konkrete Gerechtigkeitsformulierungen des Verwirklichungschancen-Ansatzes fand. Die Bedeutung von Gesundheit wird von Sen auch deutlich herausgestellt: “Gesundheit ist unter anderem eine Quelle des Wohlergehens (und hilft Schmerzen zu vermeiden). Es gibt viele Aspekte von Freiheit und Fairness in der Verteilung von Ressourcen (oder primären Gütern), die eng verbunden sind mit Gesundheit. Gesund zu sein kann zu unserer Fähigkeit beitragen, Dinge zu tun. Tatsächlich ist Gesundheit ganz allgemein mit der Erweiterung von Verwirklichungschancen verbunden, indem sie unsere vorhandenen Verwirklichungschancen vergrößert, Dinge zu tun, von denen wir annehmen, dass wir Gründe haben, sie zu tun.“ (Sen 2010: viii; eigene Übersetzung)

Der Ansatz der Verwirklichungschancen wurde in enger Auseinandersetzung zu der Theorie der Gerechtigkeit des US-amerikanischen Philosophen John Rawls entwickelt, der die Freiheitsrechte des Subjekts - auch gegen den Staat - zum Ausgangspunkt nimmt. Rawls verbindet seinen freiheitstheoretischen Ansatz mit moralphilosophisch begründeten Forderungen nach Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen an Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, zu wenig Handlungsressourcen zur Verfügung haben, um eine angemessene Vorstellung des guten Lebens umsetzen zu können. Die Kritik von Sen und Nussbaum und der Versuch der Weiterentwicklung von Rawls‘ Theorie setzen im Verwirklichungschancenansatz sowohl am Ressourcenbegriff als auch an der aus ihrer Sicht zu einfachen Konzeptionalisierung von Ungleichheit an. Erstens verweisen sie darauf, dass Ressourcen keinen Selbstzweck darstellen. Das bedeutet beispielsweise, dass es nicht darum geht, viel Geld zu besitzen, sondern dass Geld nur Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung von Menschen ist. Erst die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung führt zu einem Zustand, den man zu Recht als Freiheit bezeichnen kann. Zweitens wird dem Ansatz der Verwirklichungschancen zufolge die bloße Gleichverteilung von Ressourcen der Unterschiedlichkeit von Menschen nicht gerecht. Wenn alle Menschen dasselbe an Ressourcen oder Geld zur Verfügung haben, bedeutet das nicht, dass auch alle real existierenden Menschen das gleiche Maß an Bedürfnisbefriedigung und realisierter Freiheit besitzen. Es gibt Menschen, die zur Erfüllung etwa ihres Bedürfnisses auf Mobilität mehr Ressourcen benötigen, etwa weil sie auf den Rollstuhl angewiesen sind. Eine bloße Gleichverteilung an Ressourcen würde also solche Unterschiede der Menschen ignorieren und damit gerade zu Ungerechtigkeiten führen. Nussbaum hat eine Liste von Verwirklichungschancen (Capabilities-Set) entwickelt, die vorhanden sein müssen, damit Menschen ihre Idee vom guten Leben entwickeln und verwirklichen können. Nussbaum sagt nicht, wie ein gutes Leben genau aussehen soll, sondern argumentiert indirekter, dass Menschen, wenn sie eine eigenständige Idee des gutes Lebens für sich selbst konzipieren und realisieren wollen, auf ein Fundament von bestimmten Dingen zurückgreifen müssen. Diese Liste umfasst insgesamt zehn Punkte (Abb. 1; eine umfassende Analyse der mittelbaren und unmittelbaren Gesundheitsbezüge dieser Liste liefert Bittlingmayer/Ziegler 2012: 52ff.):

  1. Leben: Die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben; nicht frühzeitig zu sterben und nicht zu sterben, bevor dieses Leben so eingeschränkt ist, daß es nicht mehr lebenswert ist.
  2. Körperliche Gesundheit: Die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören.
  3. Körperliche Integrität: Die Fähigkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu bewegen; vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein, sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt eingeschlossen; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung und zur freien Entscheidung im Bereich der Fortpflanzung.
  4. Sinne, Vorstellungskraft und Denken: Die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlussfolgern - und dies alles auf jene ‚wahrhaft menschliche‘ Weise, die von einer angemessenen Erziehung und Ausbildung geprägt und kultiviert wird, die Lese- und Schreibfähigkeit sowie basale mathematische und wissenschaftliche Kenntnisse einschließt, aber keineswegs auf sie beschränkt ist. Die Fähigkeit, im Zusammenhang mit dem Erleben und Herstellen von selbstgewählten religiösen, literarischen musikalischen etc. Werken und Ereignissen die Vorstellungskraft und das Denkvermögen zu erproben. Die Fähigkeit, sich seines Verstandes auf Weisen zu bedienen, die durch die Garantie der politischen und künstlerischen Meinungsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung geschützt werden. Die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen und unnötigen Schmerz zu vermeiden.
  5. Gefühle: Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst aufzubauen; die Fähigkeit, auf Liebe und Sorge mit Zuneigung zu reagieren und auf die Abwesenheit dieser Wesen mit Trauer; ganz allgemein zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Zorn zu fühlen. Die Fähigkeit, an der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Furcht und Ängste gehindert zu werden. (Diese Fähigkeit zu unterstützen heißt auch, jene Arten der menschlichen Gemeinschaft zu fördern, die erwiesenermaßen für diese Entwicklung entscheidend sind.)
  6. Praktische Vernunft: Die Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken. (Hierzu gehört der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit).
  7. Zugehörigkeit:
    A. Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen anzuerkennen und Interesse an ihnen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen der sozialen Interaktion einzulassen; sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. (Der Schutz dieser Fähigkeit erfordert den Schutz jener Institutionen, die diese Formen der Zugehörigkeit konstituieren und fördern, sowie der Versammlungs- und Redefreiheit.)
    B. Über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und der Nichtdemütigung zu verfügen; die Fähigkeit, als Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert dem anderer gleich ist. Hierzu gehören Maßnahmen gegen die Diskriminierung auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Kaste, Religion und nationaler Herkunft.
  8. Andere Spezies: Die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.
  9. Spiel: Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.
  10. Kontrolle über die eigene Umwelt:
    A. Politisch: Die Fähigkeit, wirksam an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; ein Recht auf politische Partizipation, auf Schutz der freien Rede und auf politische Vereinigungen zu haben.
    B. Inhaltlich: Die Fähigkeit, Eigentum (an Land und an beweglichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben, eine Beschäftigung auf der gleichen Grundlage wie andere zu suchen; vor ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme geschützt zu sein. Die Fähigkeit, als Mensch zu arbeiten, die praktische Vernunft am Arbeitsplatz ausüben zu können und in sinnvolle Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu können.

Abb. 1 Liste der zentralen Verwirklichungschancen (Central Capabilities) nach Martha Nussbaum (2010: 112-114)

Nussbaum möchte damit nicht Menschen bestimmte Ideen des guten Lebens vorschreiben oder nahe legen, sondern die Bedingungen der Möglichkeiten für das gesamte Spektrum an Realfreiheiten abstecken, das Menschen mit guten Gründen erreichen möchten. Die Liste veranschaulicht auch die inhaltlichen Überschneidungen zur Ottawa-Charta, etwa bei der Betonung der Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften oder der Kontrolle über die eigene Lebenswelt. Darüber hinaus sind die unmittelbaren Bezüge zu Gesundheit wie Lebensdauer, körperliche Gesundheit, Verfügbarkeit über Life Skills und die indirekten Bezüge wie Partizipation oder Sozialität klar ersichtlich (Gesundheitsförderung 1 - 3).

Wie weit dieses Modell von der Idee der Bevormundung entfernt wird besonders dann deutlich, wenn es um die Frage nach dem Zusammenhang von Gesellschaft und Subjekt geht. Demnach ist es die Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Individuen für die Realisierung der in der Liste enthaltenen Verwirklichungschancen entscheiden. Hier wird eine ähnliche Zielrichtung deutlich wie bei dem Empowermentansatz der Gesundheitsförderung (Empowerment), dessen beiden zentralen Strategien, die Förderung der Partizipationsfähigkeit (Partizipation) und der Strukturbildung (Capacity Building) eine vergleichbare Verschränkung von Entscheidungsfähigkeiten von Individuen und unterstützenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür beinhalten.  Auf der anderen Seite besteht von Seiten der Gesellschaft zu keiner Zeit an Anspruch darauf, dass sich Individuen für das eine oder andere entscheiden müssten. In Hinblick auf Gesundheit bedeutet das, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse so organisiert werden, dass sich ein Höchstmaß an Gesundheit für jeden einzelnen realisieren lässt. Ob dann Individuen sich auch dafür entscheiden, gesundheitsförderlich zu leben, bleibt ihnen selbst überlassen. Der Ansatz der Verwirklichungschancen ist differenzierte Gerechtigkeitstheorie, die gut dazu dienen kann, Fragen gesundheitlicher Ungleichheiten und politischer Programmatiken angemessen komplex zu begreifen und gesundheitsfördernde Handlungsansätze zu entwickeln, die Respekt vor Lebensentwürfen anderer Menschen haben (siehe hierzu auch Ruger 2010; Abel/Frohlich 2012 und ausführlich Bittlingmayer/Ziegler 2012).

So plausibel der Verwirklichungschancenansatz als gerechtigkeitstheoretische Rahmung etwa von Empowerment und Gesundheitsförderung auch ist, so schwierig ist die Aufgabe einer konkreten Operationalisierung. Weil die Perspektive auf Verwirklichungschancen einen allgemeinen Optionsraum darstellt, ist es besonders schwer herauszufinden, ob sich Chancen vergrößert haben. Denn prinzipiell gilt, dass dem Verwirklichungschancenansatz zufolge auch bei gleichem beobachtbarem Verhalten eine Vergrößerung des Optionsraums vorhanden sein kann, das Subjekt es aber mit guten Gründen ablehnt, von dieser neu wahrgenommenen Option Gebrauch zu machen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Bemühungen nach Messbarkeit von Verwirklichungschancen noch am Anfang stehen (hierzu ausführlicher Sahrai/Bittlingmayer 2014).

Eine zweite Schwierigkeit liegt in der Aneignung des Ansatzes von unterschiedlichster Seite. Durch die Betonung des Subjekts und seine Entscheidungsfreiheit - die als Schutz vor staatlichen Zumutungen dient, eine bestimmte Form des guten Lebens den Bürgern und Bürgerinnen vorzuschreiben - liegt das Argument nahe, dass die Situation von ressourcenschwachen Personen ihnen selbst angelastet werden kann. Sie haben in dieser neoliberalen Lesart schlicht aus dem großen Optionsraum die falschen Entscheidungen getroffen.

Ein letzter Punkt betrifft die konkreten Umsetzungschancen des Ansatzes für die Public Health-Praxis. Public Health-Praktiker und Praktikerinnen handeln dem Capability-Ansatz zufolge mit Notwendigkeit in einem Spannungsverhältnis zwischen der Absicht, die Gesundheit von Personen zu stärken, der zu respektierenden Autonomie der Personen, ihren durch Sozialisation erworbenen - möglicherweise gesundheitsabträglichen - Gewohnheiten, Bedürfnissen und individuellen Vorstellungen vom guten Leben (adaptive Präferenzen) und schließlich der Gefahr, Personen durch bloße Überredung oder sogar Zwang zum gewünschten Verhalten zu bewegen (Paternalismus) (siehe Abbildung 2).

Mittlerweile hat die Rezeption des Verwirklichungschancen-Ansatzes in Deutschland eingesetzt, auch wenn sie im internationalen Vergleich deutlich geringer ist als in Ländern wir den Niederlanden, Finnland, Großbritannien oder den U.S.A. Bereits vergleichsweise früh wurde in Deutschland auf die großen Potenziale des Ansatzes für den Public Health Sektor hingewiesen, etwa in einem Beitrag von Thomas Abel und Dominik Schori (2009) oder z.B. im Rahmen der Kongresse Armut und Gesundheit durchgängig seit 2010. Verwirklichungschancen stellen hier eine zentrale Argumentationslinie für eine wesentlich gerechtere Sozial- und Gesundheitspolitik dar. Vor allem mit Blick auf die gewollte Partizipation von Menschen würde eine auf Verwirklichungschancen ausgerichtete Sozialpolitik erst die Voraussetzungen schaffen, um Formen der Partizipation auch von ressourcenschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft zu ermöglichen. Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) hat 2011 erstmals den Verwirklichungschancenansatz als theoretische Klammer für die engere Verknüpfung von Gesundheitsförderung und Jugendhilfestrukturen verwendet. Die Empfehlungen des Berichts laufen auf eine engere Verzahnung des Gesundheits-, Bildungs- und Jugendhilfesektors hinaus, der die Wechselbeziehungen zwischen Gesundheit und Bildung ernst nimmt und sie vor dem Hintergrund der Verwirklichungschancen neu definiert. Selbstbestimmtes Handeln wird hier an die strukturellen Bedingungen für die Ermöglichung von Selbstbestimmung gebunden.

Eine weitere Rezeptionslinie bestimmt den Verwirklichungschancenansatz als Erweiterung bisheriger theoretischer und konzeptioneller Modelle. In der theoriebezogenen Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Sen und Nussbaum wird der Ansatz in der Regel ergänzend zu bestehenden Theorieangeboten innerhalb der Gesundheitswissenschaften diskutiert. So soll der Verwirklichungschancenansatz zum Beispiel ein besseres Verständnis für die Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten ermöglichen, weil er - im Unterschied etwa zur Soziologie Pierre Bourdieus - weniger auf die Erklärung der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten angelegt ist (Abel/Frohlich 2012). In anderen Arbeiten wird der Capabilities-Ansatz als adäquate theoretische Rahmung des Empowerment-Ansatzes verstanden, weil sich auf seiner Grundlage schwierige normative Fragestellungen einer Praxiswissenschaft wie Public Health komplexer und gehaltvoller formulieren lassen (Bittlingmayer/Ziegler 2012; Sahrai/Bittlingmayer 2014). Dabei besteht bei der Implementation des Capability-Ansatzes in Public Health (wie bei dem anderen Ansatz auch) stets die Gefahr, dass der Erklärungsanspruch dieser Gerechtigkeitstheorie überdehnt wird, etwa indem der Capabilities-Ansatz in eine Handlungstheorie transformiert wird, die dann in die Gesundheitsförderung eingepasst wird. Dass der Verwirklichungschancenansatz aber insgesamt einen fruchtbaren Bezugspunkt darstellt, mit dem zuallererst das für Public Health konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Autonomie, adaptiven Präferenzen und Paternalismus präzise dargestellt werden kann, sollte deutlich werden. Auf diese Weise liefert der Capabilities-Ansatz einen belastbaren Rahmen für die Fragen nach den normativen Bezugspunkten innerhalb von Public Health.

Aktuell wird in Deutschland beispielsweise der Ansatz spezifisch auf die gesundheitlichen Voraussetzungen älterer Menschen oder die räumliche Dimension des gesundheitsfördernden Settingansatzes für Quartiere bezogen. Hier wird beispielsweise die unterschiedliche Verfügbarkeit von Handlungsressourcen in Abhängigkeit vom sozialen Status und der räumlichen Verortung alter Menschen in den Fokus gerückt. Unter Rückgriff auf den Verwirklichungschancenansatz wird argumentiert, dass die sozialen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen gerade für die Gesundheit älterer Menschen eine sehr große Rolle spielen: fehlt es an Infrastruktur wie Schwimmbädern, Parks oder nahräumlichen Freizeitangeboten hat das eine erhebliche Einschränkung der realisierte Freiheiten und Bedürfnisbefriedigungen insbesondere für mobilitätseingeschränkte Personen zur Konsequenz (Kümpers 2012). Gerade wenn etwa die Partizipation älterer Menschen gestärkt werden soll, lässt sich mit Blick auf den Capability-Ansatz feststellen, dass es hier zu einer empfindlichen Lücke kommt zwischen Rentnern und Rentnerinnen mit genügend monetären Ressourcen und alters- und kontaktarmen Menschen.

In einem weiteren Beitrag hat Hartmut Remmers (2009) aus der Perspektive der gerechten Teilhabe an gesundheitlichen Versorgungsleistungen den Ansatz der Verwirklichungschancen aufgearbeitet. In diesem Rahmen hat Remmers vergleichsweise früh den Ansatz übertragen auf das Feld der Versorgungsungleichheiten, die in Deutschland bis heute kaum flächendeckend diskutiert werden - verglichen mit den internationalen Publikationen.  Zusammenfassend lässt sich aber feststellen, dass die Rezeption und die Umsetzung des Capability-Ansatzes in die Praxis der Gesundheitsförderung noch am Anfang steht. Deshalb finden sich über vereinzelte theoretische Verortungen hinaus bislang noch keine erfolgreichen Modelle guter Praxis, die hier ausgeführt werden könnten.

Literatur:

Abel, Th / Schori, D. (2009): Der Capability-Ansatz in der Gesundheitsförderung. Ansatzpunkte für eine Neuausrichtung der Ungleichheitsforschung. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 34 (2), 48-64.
Abel, Th & Frohlich, K. L. (2012): Capitals and capabilities: Linking structure and agency to reduce health inequalities. In: Social Science & Medicine, 74, 236-244.
Bittlingmayer, U.H. & Ziegler, H. (2012): Public Health und das gute Leben. Der Capability-Approach als normatives Fundament interventionsbezogener Gesundheitswissenschaften? WZB-Discussion Paper SP I 2012-301; download unter:
https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2012/i12-301.pdf;
Deutscher Bundestag (2011): Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen. Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe. 13. Kinder- und Jugendbericht. Berlin.
Keupp, H. (2013): Verwirklichungschancen für gelingendes Leben - Der Capability Approach und die Gesundheitsförderung Heranwachsender . Jugendsozialarbeit aktuell Nr. 119, S.1-4 (
http://www.jugendsozialarbeit.info/JSA/lagkjsnrw/web.nsf/id/li_jsaaktuell11913.html?Open&highlight=Keupp)
Kümpers, S. (2012): Partizipation hilfebedürftiger und benachteiligter Älterer - die Perspektive der ‚Grundbefähigungen‘ nach Martha Nussbaum. In: Rosenbrock, R. & Hartung, S. (Hrsg.) (2012): Handbuch Partizipation und Gesundheit, Bern (Verlag Hans Huber).
Nussbaum, M. C. (2010): Die Grenzen der Zugehörigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Remmers, H. (2009): Ethische Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit gesundheitlicher Versorgungsleistungen. In: Bittlingmayer, U.H.; Sahrai, D. & Schnabel, P.-E. (Hrsg.): Normativität und Public Health, Wiesbaden (VS).
Ruger, J. (2010): Health and Social Justice. New York (Oxford Univ. Pr.).
Sahrai, E. & Bittlingmayer, U.H. (2014): Empowerment and the Capability Approach in Public Health - some remarks from the perspective of a scientific evaluation research. In: Otto, H.-U. & Ziegler, H. (eds.): Critical Social Policy and the Capability Approach, Opladen (Barbara Budrich).
Sen, A. (2000): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München (Hanser Verlag).
Sen, A. (2010): Foreword. In: Ruger, J.: Health and Social Justice. New York (Oxford Univ. Press).

Internetadressen:

http://hd-ca.org/ [Human Development & Capability Association]

Verweise:

Capacity Building / Kapazitätsentwicklung, Empowerment/Befähigung, Gesundheitsförderung 1: Grundlagen, Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger