Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung

Alf Trojan

(letzte Aktualisierung am 05.03.2020)

Zitierhinweis: Trojan, A. (2020). Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i108-2.0

Zusammenfassung

Soziale Netzwerke sind relativ dauerhafte, meist informelle Beziehungsstrukturen zwischen Individuen und Gruppen. Dazu zählen primäre (Familie, Freunde), sekundäre (Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Verbände) und tertiäre Netzwerke (professionelle Hilfssysteme). Sie alle helfen bei der Bewältigung von Krankheiten und fördern die Gesundheit auf individueller wie lokaler Ebene. So haben epidemiologische Untersuchungen gezeigt, dass eine Einbindung in soziale Netzwerke (Soziale Unterstützung) mit einer geringeren Krankheitshäufigkeit und höheren Lebenserwartung einhergeht. Weil traditionelle Netzwerke zunehmend wegbrechen, kommt der Netzwerkförderung eine immer größere Bedeutung zu – etwa in der Pflege alter Menschen und chronisch Kranker.

Schlagworte

Krankheitsbewältigung, soziale Unterstützung, Familie, Selbsthilfegruppen, soziale Bindungen


Als eine der ersten Anwendungen des Netzwerkkonzepts gilt die Studie von J. Clyde Mitchell (1969), in der es benutzt wurde, um lose Selbstorganisationen von einzelnen Zuwanderern in kolonialen Industriestädten zu ermitteln und zu erklären (Weyer 2014). Damals wie heute bezeichnen wir Soziale Netzwerke als relativ dauerhafte, jedoch nur gering oder gar nicht formalisierte Beziehungsstrukturen zwischen Individuen und Gruppen. Die Bedeutung der Sozialen Netzwerke für die Gesundheitsförderung liegt vor allem darin, dass sie je nach Bedarf Soziale Unterstützung für die Einzelnen leisten und/oder aus ihnen soziale Aktionen entstehen können. Auf diese Weise haben Netzwerke eine wesentliche Bedeutung bei der besseren Bewältigung von Krankheiten (Badura 1999) und bei der Förderung von Gesundheit auf individueller Ebene und in lokalen Lebenszusammenhängen (Geene 2002). (Stress  und Stressbewältigung; Resilienz und Schutzfaktoren).

Gelegentlich werden die „natürlichen“ Netzwerke (Familie, Haushaltsmitglieder, Nachbarschaft, Freundes- und Kollegenkreis, etc.) den „organisierten“ Netzwerken (Vereinen, Selbsthilfezusammenschlüssen, Bürgerinitiativen und ähnlichen sozialen Gebilden etc.) gegenübergestellt. Systematisch unterscheidet man drei Formen (siehe Abb. 1).

primäre Netzwerke

Familie, Verwandte, Haushaltsangehörige und Freunde des Einzelnen

sekundäre Netzwerke

Vor allem selbstorganisierte soziale Gebilde im eigenen Lebensraum wie Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen etc., aber auch höhergradig organisierte Vereinigungen und Verbände wie Deutscher Pro Familia, Diabetiker Bund, Multiple Sklerose Gesellschaft etc.

tertiäre Netzwerke

Professionelle Hilfssysteme, d.h. Beratungsstellen, Arztpraxen, Sozialstationen, Krankenhäuser, Pflegeheime etc.

Abb. 1: Systematik sozialer Netzwerke (eigene Darstellung)

Die sozialpolitische Bedeutung der sozialen Netze als Schutz-, Bewältigungs-, Entlastungs- und Unterstützungssysteme hat zu einer rapide gewachsenen Forschung über soziale Netzwerke seit Beginn der 1970er-Jahre geführt. Insbesondere in der Sozialpsychiatrie und in der Gemeindepsychologie sind persönliche Netzwerke untersucht worden. Hierbei geht man aus von den Beziehungen, die ein Not leidendes Individuum zu einzelnen Personen und Gruppen hat. Es werden nicht nur Schwächen des individuellen Netzwerkes zu identifizieren versucht, sondern auch die Stärken, d. h. die möglichen Anknüpfungspunkte für die aktive Hilfesuche des Individuums in seiner unmittelbaren Umgebung. Netzwerkförderung in diesem Kontext wird gelegentlich auch als Netzwerkberatung oder auch Netzwerktherapie bezeichnet. Dieser Ansatz ist eine wesentliche Erweiterung angesichts der traditionellen Einengung professioneller Helferdisziplinen auf den Einzelnen und seine Krankheit.

Epidemiologische Untersuchungen haben bestätigt, dass eine gelungene Einbindung in primäre und soziale Netzwerke mit geringerer Krankheitshäufigkeit und höherer Lebenserwartung einhergeht. Die klassische amerikanische Studie von Berkman und Syme (1979) bei einer Zufallsauswahl von fast 7.000 Erwachsenen zeigte, dass Personen mit geringen sozialen Bindungen („social and communietys“) in einem Neunjahres-Zeitraum nach der Untersuchung ein zwei- bis dreimal so großes Sterberisiko hatten wie die Personengruppen mit den intensivsten sozialen Kontakten.

Daneben sollen auch aufgabenbezogene soziale Netzwerke im Sinne selbstorganisierter Zusammenschlüsse auf Gemeindeebene gefördert werden. Im Zentrum solcher Netzwerke steht im Gegensatz zu den um eine Person herum gruppierten Netzwerken eine gemeinsame Betroffenheit oder ein gemeinsames Ziel als verbindendes Element, z. B. eine Krankheit oder das Ziel Umweltschutz. Sie sind häufig Teil der „neuen sozialen Bewegungen“. Untersuchungen auf Gemeindeebene haben gezeigt, dass solche sozialen Netzwerke große Bedeutung haben für die Organisation sozialer Unterstützung und sozialer Aktionen im Sinne besserer Lebensbedingungen und größeren Wohlbefindens. Besonders in diesem Bereich kann Netzwerkförderung als allgemeiner (krankheitsunspezifischer) Ansatz der Gesundheitsförderung und Prävention bezeichnet werden.

Als Netzwerkförderung wird die Gesamtheit aller Aktivitäten bezeichnet, die

  • der Erhaltung, Befähigung und Weiterentwicklung vorhandener aufgabenbezogener, gesundheitsrelevanter Netzwerke in Arbeits- und Lebenswelt,
  • der Anregung neuer aufgabenbezogener, gesundheitsrelevanter Netzwerke in Arbeits- und Lebenswelt,
  • der Entlastung und „Pflege“, Erweiterung, Aktivierung, Stärkung und Qualifizierung persönlicher Netzwerke (Familie, Nachbarschaft, Freunde etc.) dienen.

Diese Definition zeigt, dass der Begriff so weit gefasst ist, dass er Selbsthilfe-Förderung (Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung) einschließt. Er entstand im Anschluss an die epidemiologische Forschung zur Sozialen Unterstützung sowie zu sozialen Netzwerken und schließt konzeptionell und argumentativ an diese Forschung an. Das Konzept hat sich praktisch und politisch jedoch bisher kaum durchgesetzt. Stattdessen werden in unterschiedlichen sozialpolitischen Kontexten einzelne Elemente der Netzwerk-Förderung unter spezifischeren Überschriften aufgegriffen, z. B. Unterstützung von Angehörigen (RKI 2015), Selbsthilfe-Förderung im Gesundheitswesen (Trojan, Bellwinkel, Bobzien, Kofahl & Nickel 2012), „Netzwerkarbeit“ (Wohlfahrt 2016) oder „Gemeinwesen-Arbeit“ im Bereich der sozialen Arbeit (Fischer 2013), „Netzwerkintervention“ in der Gemeindepsychologie (Nestmann 2000). Allen diesen Formen ist jedoch gemeinsam, dass sie darauf abzielen, „Laien“ zu Beteiligten und möglichst kompetenten „Leistungserbringern“ zu machen.

Netzwerk-Förderung ist von besonders großer sozialpolitischer Bedeutung für die Pflege alter Menschen und chronisch Kranker. Das Sozialgesetzbuch XI verfolgt das Ziel, Pflegebedürftigen so lange wie möglich eine Pflege zu Hause zu ermöglichen. Dies ist nur möglich, wenn pflegende Angehörige ausdrücklich ermutigt und in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe auf sich zu nehmen. Das Gesetz sieht daher in den Paragrafen 36 bis 45 eine Reihe von Leistungen vor, die pflegende Angehörige finanziell unterstützen, materielle Hilfen gewähren, Entlastungsinstitutionen und Unterstützungsleistungen schaffen. Seit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz von 2008 besteht auch die Möglichkeit einer Förderung „von Selbsthilfegruppen, -organisationen und -kontaktstellen, die sich die Unterstützung von Pflegebedürftigen, von Personen mit erheblichem Betreuungsbedarf sowie deren Angehörigen zum Ziel gesetzt haben“ (§ 45d, SGB XI; Förderung ehrenamtlicher Strukturen sowie der Selbsthilfe). Case- und Care-Management enthält im Prinzip auch regelhaft Elemente von Netzwerkförderung.

Die zunehmende Bedeutung der Netzwerkförderung lässt sich auch daraus erklären, dass traditionelle Netzwerke wie insbesondere die Familie wegen erhöhter beruflicher und sozialer Mobilität, der wachsenden Zahl von Ein-Personen-Haushalten und ähnlichen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen der „Individualisierung“ bzw. „Pluralisierung“ von Lebenslagen und Lebensphasen immer weniger ihren traditionellen Aufgaben im Sinne sozialer Unterstützung nachkommen können.

Im Zusammenhang von Gesundheitsförderung und in den Gesundheitswissenschaften/Public Health wird neuerdings der Begriff der Netzwerkförderung häufiger benutzt für die Schaffung von örtlichen, regionalen oder nationalen Kooperationsnetzwerken. Angemessener für die Zusammenarbeit verschiedener Akteure ist jedoch der Ausdruck Netzwerkmanagement (Schubert 2008), Netzwerkbildung oder Vermitteln und Vernetzen, was einem zentralen Handlungsprinzip der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung entspricht (Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa).

In der Deklaration von Jakarta taucht erstmals die Feststellung auf, dass Gesundheitsförderung den Aufbau „sozialen Kapitals“ benötigt. Die WHO definiert dies folgendermaßen: „Soziales Kapital beschreibt den Grad des sozialen Zusammenhalts, der innerhalb von Gemeinschaften zu finden ist. Soziales Kapital bezieht sich auf Prozesse zwischen Menschen, die Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen hervorbringen sowie Koordination und Zusammenarbeit erleichtern.“ (Nutbeam 1998, S. 362) Die enge Verwandtschaft bzw. weitgehende Überlappung mit dem aus der sozialepidemiologischen Forschung stammenden Konzept „soziales Netzwerk“ ist unübersehbar (Putnam 2000; Weyer 2014).

Inzwischen kann man allerdings sagen, dass bei dem Begriff Soziales Netzwerk wohl am häufigsten an soziale Online-Netzwerke gedacht wird (Häusler 2007). Dies sind Dienste, die die Möglichkeit zu Informationsaustausch und Beziehungsaufbau anbieten. Sie werden auch als Online Communities bezeichnet (Social Media/Gesundheitsförderung mit digitalen Medien).

Literatur:

Badura, B. (1999). Soziale Unterstützung und chronische Krankheit. Zum Stand sozialepidemiologischer Forschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Berkman, L. F. & Syme, S. L. (2017). Social Networks, Host Resistance, and Mortality - A Nine-Year Follop-up Study of Alameda County Residents. American Journal of Epidemiology, 185(11), 1070–1088. doi:10.1093/aje/kwx103.
Fischer, J. (2013). Netzwerke und Soziale Arbeit: Theorien, Methoden, Anwendungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Geene, R. (2002). Gesundheit – Umwelt – Stadtentwicklung: Netzwerke für Lebensqualität. Berlin: b_books.
Häusler, S. (2007). Soziale Netzwerke im Internet. Entwicklung, Formen und Potenziale zu kommerzieller Nutzung. Saarbrücken:VDM Verlag Dr. Müller.
Mitchell, J. C. (1969). Social Networks in urban situations: Analyses of personal relationships in Central African towns. Manchester: University Press.
Nestmann, F. (2000). Netzwerkintervention und soziale Unterstützungsförderung – konzeptioneller Stand und Anforderungen an die Praxis. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO)31 (3), 259–275.
Nutbeam, D. (1998). Health Promotion Glossary. Health Promotion International 13 (4), 345 - 364
Putnam, R. D. (2000). Niedergang sozialen Kapitals – Warum kleine Netzwerke wichtig sind für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. In W. Dettling & B. Thiemann (Hrsg.). Denken, Handeln, Gestalten. Frankfurt am Main: POD Print.
RKI – Robert Koch Institut (Hrsg.) (2015). Pflegende Angehörige – Deutschlands größter Pflegedienst. GBE Kompakt 6 (3), 1-11. Zugriff am 18.09.2019 unter https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/3137/3.pdf?sequence=1.
Schubert, H. (2008). Lehrbuch: Netzwerkmanagement: Koordination von professionellen Vernetzungen – Grundlagen und Praxisbeispiele. Wiesbaden: VS Verlag.
Trojan, A., Bellwinkel, M., Bobzien, M., Kofahl, C. & Nickel, S. (Hrsg.) (2012). Selbsthilfefreundlichkeit im Gesundheitswesen. Wie sich selbsthilfebezogene Patientenorientierung systematisch entwickeln und verankern lässt. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW.
Wanhoff, T. (2011): Wa(h)re Freunde – Wie sich unsere Beziehungen in sozialen Online-Netzwerken verändern. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Weyer, J. (2014). Soziale Netzwerke: Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung. München: utp.
Wohlfart, U. (2006). Netzwerkarbeit erfolgreich gestalten: Orientierungsrahmen und Impulse. Bielefeld: Bertelsmann.

Weiterführende Quellen:

Klärner, A., Gamper, M., Keim - Klärner, S., Moor, I. von der Lippe, H. & Vonneilich, N. (Hrsg.) (2020). Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten: Eine neue Perspektive für die Forschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 1–30.

Internetadressen:

Beispiel für regionale und kommunale Netzwerke: www.familie-in-nrw.de/sozialenetzwerke.html
Literatur und Methoden zur Netzwerkförderung www.sozialraum.de/methodenkoffer
Netzwerk für die Sozialwirtschaft: www.socialnet.de
Pflegende Angehörige: www.wir-pflegen.net
Weiterbildungsbausteine zu Empowerment und Vernetzung:www.empowerment.de

Verweise:

Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa, Gesundheitswissenschaften / Public Health, Lebenslagen und Lebensphasen, Resilienz und Schutzfaktoren, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Social Media / Gesundheitsförderung mit digitalen Medien, Soziale Unterstützung, Stress und Stressbewältigung, Vermitteln und Vernetzen

Ich bedanke mich bei meinem Kollegen Waldemar Süß für seine Beteiligung an früheren Fassungen dieses Leitbegriffs.