Gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit

Waldemar Süß , Alf Trojan

(letzte Aktualisierung am 04.06.2020)

Zitierhinweis: Süß, W. & Trojan, A. (2020). Gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i029-2.0

Zusammenfassung

Gemeinwesenarbeit ist eine Methode der Sozialen Arbeit. In einem kleinräumigen Bereich, etwa dem Quartier, dem Stadtteil oder der Kommune, werden mit entsprechenden Projekten soziale Probleme bekämpft. Gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit kommt vor allem in Schulen, der Erwachsenenbildung oder auch der Gesundheitsversorgung zum Einsatz. Die Maßnahmen zielen u. a. darauf ab, Betroffene zu aktivieren, Selbsthilfe zu mobilisieren, Partizipation zu ermöglichen oder wichtige Akteure zu vernetzen. Ab Mitte der 70er-Jahre ging die Gemeinwesenarbeit stark zurück. Heute werden die Maßnahmen im Rahmen von Stadtentwicklungsprogrammen wiederbelebt.

Schlagworte

Sozialarbeit, Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf, Quartiersentwicklung, Kommunale Gesundheitsförderung, quartiersbezogene Gesundheitsförderung


Gemeinwesenarbeit und Soziale Arbeit

Gemeinwesenarbeit ist im Kern als Methode und Arbeitsprinzip der Sozialen Arbeit anzusehen. Während sie ursprünglich neben der Sozialen Einzelfallhilfe und der Sozialen Gruppenarbeit als dritte Methode der Sozialen Arbeit definiert wurde (vgl. Seippel 1976), überwiegt heute eher ein Verständnis der Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip, d. h. als eine Grundorientierung, eine Sicht- und Herangehensweise an soziale Probleme in einem kleineren sozialräumlichen Bereich, dem Quartier, im Stadtteil, der Kommune oder einem besonderen „Milieu“. Grundprinzipien der Gemeinwesenarbeit sind lokale Orientierung, Koordination und Vernetzung, Anknüpfen an Ressourcen in der Lebenswelt, Mobilisieren von Selbsthilfe, Partizipation, Aktivierung von Betroffenen, Vermittlung zwischen Makro- und Mikroebenen, befähigende und aktivierende Interventionen.

Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip wird traditionell angewendet

  • vor allem in besonderen Problemgebieten, wie z. B. Obdachlosenquartieren, Sanierungs- und Neubausiedlungen, benachteiligten Stadtteilen, Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf,
  • in der Kinder- und Jugend-, Drogen-, Altenarbeit und anderen Feldern der Sozialen Arbeit,
  • in Handlungsfeldern jenseits der traditionellen Felder von Sozialarbeit, wie etwa Schule, Erwachsenenbildung oder auch Gesundheitsversorgung und -förderung.

Die auf den letztgenannten Bereich bezogene Gemeinwesenarbeit kann als gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit charakterisiert werden. Darüber hinaus können die genannten Grundprinzipien auch als zentrale Arbeitsprinzipien für die Gesundheitsförderung im weit verstandenen Sinne der WHO-Definition gelten (Gesundheitsförderung 3).

Historisch geht die Gemeinwesenarbeit zurück auf die Settlementarbeit, die Mitte des 19. Jahrhunderts in England begann und in Deutschland vor allem mit dem Aufschwung des Industriezeitalters und zunehmender Verarmung der Arbeiterinnen und Arbeiter Fuß fasste. Ausgangspunkte war schon damals, dass neben Wohn- und Bildungswesen auch die Gesundheitsversorgung für diese Schichten absolut unzureichend war. Es galt, die Hilfebedürftigen durch Bildung, Organisation, Nachbarschaftsarbeit und Selbsthilfe aus materieller Not zu befreien (Empowerment/Befähigung). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Gemeinwesenarbeit in den 1950er-Jahren als neuer Ansatz in Westdeutschland importiert – vor allem aus den USA und den Niederlanden. Arbeit in Obdachlosensiedlungen und in Sanierungsgebieten, vielfach unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“, waren Hauptaktivitäten. Anfang der 1970er-Jahre gab es viele bekannte Projekte der Gemeinwesenarbeit in großstädtischen Problemvierteln (z. B.: Osdorfer Born in Hamburg, Märkisches Viertel in Berlin, Bockenheim in Frankfurt).

Als Grundorientierung und „Arbeitsprinzip“ sind gemeinwesenbezogene Aktivitäten in viele Bereiche der Praxis wie der Ausbildung (Studium) der Sozialen Arbeit und in die Arbeit anderer professioneller Disziplinen (Psychologie, Stadtplanung) eingesickert.

Gemeinwesenarbeit, Quartiersentwicklung und Gesunde Städte

In jüngerer Zeit werden vonseiten der Ressorts für Stadtentwicklung Ansätze für Gemeinwesenarbeit vor allem unter den Stichworten Quartiers- bzw. Stadtteilmanagement/-entwicklung wiederbelebt. Dazu hat maßgeblich seit 1998 das bundesweite Förderprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ (www.staedtebaufoerderung.info) beigetragen. Dieser Titel zeigt schon, dass „alte“ Probleme unter neuem Namen angegangen werden. Neu ist aber auch, dass es nicht nur um soziale Aufgaben, sondern auch um stärkere Berücksichtigung der lokalen Wirtschaftsförderung geht, insbesondere der Arbeitsbeschaffung, aber auch der partizipativen baulich-räumlichen Gestaltung im Interesse des Gemeinwesens (z. B. Aufenthaltsqualität im Quartier für die Bewohnerinnen und Bewohner, an der sie selbst mit ihren Vorschlägen mitarbeiten).

Die Orientierung auf ein Kernproblem sozialer Ungleichheit (auch gesundheitlicher) und eine Stärkung der lokalen Ökonomie ist kompatibel mit anderen integrierten Programmen wie „Gesunde Stadt“ und „Agenda 21“. Auch eine stärkere Professionalisierung gesundheitsbezogener Gemeinwesenarbeit dürfte langfristig positiv sein.

Auf der Jahrestagung 2001 des Deutschen Netzwerks gesundheitsfördernder Städte (www.gesunde-staedte-netzwerk.de) in Berlin waren das erste Mal die Programme „Lokale Agenda 21“ und „Soziale Stadt“ vertreten. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Programme kündigten an, in Zukunft stärker mit dem Bereich „Gesundheit“ zusammenzuarbeiten und Erfahrungen aus den unterschiedlichen Ansätzen sozialräumlicher Orientierung auszutauschen. Mittlerweile hat sich in fast 20 Jahren eine enge und stabile Kooperation des Gesunde-Städte-Netzwerks mit dem Programm der Sozialen Stadt auf der Ebene der Gesundheitsförderung in benachteiligten Quartieren herausgebildet.

Gemeinwesenarbeit und kommunale Gesundheitsförderung

Gesundheitsförderung ist zu einem expliziten etablierten Handlungsfeld des Programms „Soziale Stadt“ geworden. Das Gesunde-Städte-Netzwerk ist Mitglied im Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ (www.gesundheitliche-chancengleichheit.de). Seit dem Präventionsgesetz, das 2016 in Kraft getreten ist, ist die finanzielle und strukturelle Förderung gesundheitsförderlicher und präventiver Aktivitäten in und für kommunale Gebietseinheiten wie Stadtteile und Quartiere eine Pflichtaufgabe für die Krankenkassen.

In der Gesundheitsförderung gehen gemeinwesenbezogene Ansätze zurück auf Entwicklungen der frühen 1980er-Jahre. Dabei sind drei Handlungsstränge zu unterscheiden:

  • Am Beginn der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie DHP, einer großen multizentrischen Gemeinde-Interventionsstudie (Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell; Gemeindeorientierung), wurde an manchen Orten mit Methoden der Gemeinwesenarbeit wie Stadtteilanalyse, aktivierenden Befragungen und anderen Aktionsuntersuchungen die Grundlage für spätere Aktivitäten gelegt.
  • Auch in mehreren Projekten eines Forschungsverbundes mit dem Titel „Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe“, der etwa zeitgleich Ende der 1970er-Jahre begann, wurden Ansätze, die einer gemeinwesenbezogenen Gesundheitsarbeit entsprechen, entwickelt und begleitend beforscht. Diese Aktivitäten finden sich wieder als ein Kernbereich der Gesundheitsförderung, der zumeist unter den Begriffen Selbsthilfe/Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung und/oder Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung zusammengefasst wird.
  • Eine dritte Quelle gesundheitsbezogener Gemeinwesenarbeit ist die zu Beginn der 1980er-Jahre entstandene Gesundheitsbewegung mit ihren zahlreichen lokalen Projekten von Selbstorganisation und sozialer Aktion.

Alle drei genannten Handlungsstränge überlappen sich inhaltlich und finden sich heute vor allem wieder in lokalen Ansätzen und Kooperationsstrukturen, wie sie z. B. im Rahmen der „Gesunde-Städte-Projekte“ weiterentwickelt wurden (Gesundheitsförderung und Gesunde/Soziale Stadt/Kommunalpolitische Perspektive).

Während aus diesen Bereichen in den letzten Jahren weniger Impulse kommen, findet sich umfangreicheres Material in der amerikanischen gesundheitsbezogenen Gemeinwesenarbeit (vgl. Mercel & D´Afflitti 2003; Minkler 2012), so z. B. zu partizipativen Erhebungsmethoden der Defizite und Ressourcen eines Gemeinwesens, zur Zielbestimmung, Aktivierung, Bildung und Pflege von Koalitionen und zum Empowerment der Bewohnerinnen und Bewohner.

Projekte beziehen sich z. B. auf ein „STOP-AIDS-Programm“ mit homo- und bisexuellen Männern oder auf ein Programm mit armen alten Menschen im Stadtzentrum von San Francisco. Aus Deutschland kann hier das Beispiel der aufsuchenden Sozialarbeit rund um den Kieler Vinetaplatz ergänzt werden, wo die gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit mit suchtmittelabhängigen Menschen im Fokus der Aktivitäten stand (www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/good-practice/aufsuchende-sozialarbeit-rund-um-den-kieler-vinetaplatz). Auch das seit über zehn Jahren laufende Präventionsprogramm „Lenzgesund“ des Hamburger Gesundheitsamtes Eimsbüttel (offizielles Programmende Mitte 2012; danach aber Verstetigungsphase bis 2017; vgl. Trojan, Süß, Lorentz, Wolf & Nickel 2013 und Nickel, Lorentz, Süß, Wolf & Trojan 2019) kann in seinen Grundzügen als gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit bezeichnet werden, zumal die Mehrheit der maßgeblichen Akteure aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern der sozialen Arbeit kam und kommt.

Literatur:

Merzel, C. & D'Afflitti, J. (2003). Reconsidering community-based Health Promotion: Promise, Performance and Potential. American Journal of Public Health, 93, 557–574.
Minkler, M. (2012). Community Organizing and Community Building for Health and Welfare. Rutgers University Press.
Nickel, S., Lorentz, C., Süß, W., Wolf, K. & Trojan, A. (Hrsg.) (2019). Quartiersbezogene Gesundheitsförderung II: Qualitätsentwicklung und Verstetigung. Berlin: Lit Verlag
Seippel, A. (1976). Handbuch aktivierende Gemeinwesenarbeit: Bedingungen, Konzepte, Strategien, Methoden. Bd. 1. Gelnhausen: Burckhardthaus-Verlag.

Trojan, A., Süß, W., Lorentz, C., Wolf, K. & Nickel, S. (2013). Quartiersbezogene Gesundheitsförderung: Umsetzung und Evaluation eines integrierten lebensweltbezogenen Handlungsansatzes. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Weiterführende Quellen:

Bär, G., Böhme, C. & Reimann, B. (2009). Kinder- und jugendbezogene Gesundheitsförderung im Stadtteil. Berlin: Difu-Arbeitshilfe.
Kuhn, D. (2009). Gesundheitsförderung mit sozial Benachteiligten: Erfahrungen aus der Lebenswelt Stadtteil. Frankfurt/M.: Mabuse-Verlag.
Naidoo, J. & Wills, J. (2019). Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Deutsche Ausgabe herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Bern: Hogrefe Verlag.
Reutlinger, C. (2019) Gemeinwesenarbeit und die Gestaltung von Sozialräumen – Anmerkungen zur Krise tradierter Einheiten der Sozialen Arbeit. In sozialraum.de (3) Ausgabe 1/2011. URL: https://www.sozialraum.de/gemeinwesenarbeit-und-die-gestaltung-von-sozialraeumen.php, Datum des Zugriffs: 04.06.2020
Trojan, A. & Legewie, H. (2001). Nachhaltige Gesundheit und Entwicklung: Leitbilder, Politik und Praxis der Gestaltung gesundheitsförderlicher Umwelt- und Lebensbedingungen. Frankfurt: VAS.
Trojan, A. & Süß, W. (2018). Prävention und Gesundheitsförderung in Kommunen. In K. Hurrelmann, M. Richter, T. Klotz & S. Stock (Hrsg.). Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung. Grundlagen, Konzepte und Umsetzungsstrategien. Bern: Hogrefe.
Waller, H. & Trabert, G. (2013). Sozialmedizin: Grundlagen und Praxis. Wiesbaden: Kohlhammer Verlag.

Internetadressen:

Center for Desease Control and Prevention/Healthy Communities Program: www.cdc.gov/nccdphp/dch/programs/healthycommunitiesprogram/tools
International Union for Health Promotion and Education/Community Health Promotion: www.iuhpe.org/index.php/en/social-determinants-of-health-sdh/community-health-promotion
Wegweiser Bürgergesellschaft/Gemeinwesenarbeit (GWA – Stadtteilarbeit:www.buergergesellschaft.de/mitentscheiden/methoden-verfahren/planungsprozesse-initiieren-und-gestaltend-begleiten/gemeinwesenarbeit-gwa-stadtteilarbeit

Verweise:

Empowerment/Befähigung, Gemeindeorientierung / Sozialraumorientierung, Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa, Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung