Anwaltschaft - Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen

Frank Lehmann , Carolin Chwaluk , Alf Trojan

(letzte Aktualisierung am 02.03.2020)

Zitierhinweis: Lehmann, F., Chwaluk, C. & Trojan, A. (2020). Anwaltschaft - Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i003-2.0

Zusammenfassung

Fehlt Betroffenen die Möglichkeit, sich selbst ausreichend zu artikulieren, oder kann das gesellschaftspolitische Ziel „Gesundheit“ nicht durchgesetzt werden, ist eine Anwaltschaft als Interessensvertretung nötig. Anwaltschaftliche Zusammenschlüsse von einzelnen Personen und Institutionen finden sich inzwischen auf nationaler und internationaler Ebene. In Deutschland kooperieren etwa im Verbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“ über 70 Partnerorganisationen aus dem Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich, um die  Gesundheitsförderung in unterschiedlichen Lebenswelten  zu stärken und Gesundheitsbelange in der Politik zu vertreten.


Anwaltschaft (englisch: advocacy) ist eine der drei Handlungsstrategien der Gesundheitsförderung laut Ottawa-Charta. Seit der Sundsvall-Folgekonferenz von 1991 wird eine zweifache Differenzierung vorgenommen: Gesundheitsförderinnen und -förderer können eine anwaltschaftliche Rolle sowohl als

  • Interessenvertreterinnen und -vertreter von Betroffenengruppen (z. B. als Behinderten- oder Kinderbeauftragte) sowie als
  • Anwältinnen und Anwälte für die Gesundheit (z. B. als Expertinnen und Experten im Bereich der gemeinwesenorientierten Gesundheitsarbeit oder als Gesundheitspolitikerinnen und -politiker)

verstehen und einnehmen. Beide Rollen und die damit verbundenen Arbeitsprinzipien sind wichtig Sandra Carlisle (2000) hat ein Konzept vorgelegt, in das diese beiden Rollen integriert werden.

Interessenvertretung für Betroffene

Anwaltschaft wird eingesetzt als Arbeitsprinzip. Dabei vertreten fachlich, methodisch und sozial kompetente und von den Betroffenen legitimierte Personen oder Verbände die Interessen von Personen oder Gruppen, denen es allein (noch) an Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeiten mangelt. Dabei geht es um die Vermeidung bzw. Verringerung von Benachteiligungen, aber auch um die Entwicklung bzw. Erweiterung von Fähigkeiten, die eigenen Interessen zu vertreten.

Anwaltschaft spielt eine große Rolle, wenn es darum geht, politische Programme zu formulieren oder Zukunftsplanungen durchzuführen. Oft wird es sich um ein Eintreten für „latente Gesundheitsbedürfnisse“ der Bevölkerung handeln. Hier kann jedoch das Problem „selbsternannter Anwältinnen und Anwälte“ auftreten: Gesundheitsförderinnen und -förderer, die vorgeben, die Interessen einer Klientel oder Betroffenengruppe zu vertreten, ohne dafür die entsprechende Legitimation zu haben, bzw. im Interesse „der Gesundheit“ zu handeln, ohne den notwendigen gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisstand zu besitzen.

Mit der marktwirtschaftlichen Umwandlung des Gesundheitssystems erhält das Ziel der „Patienten-Souveränität“ größere Aufmerksamkeit. Dabei wird jedoch nicht verkannt, dass es auch besonderer Institutionen bedarf, die einerseits stellvertretend Patienteninteressen wahrnehmen (z. B. Beratungseinrichtungen, Patientenorganisationen, Verbraucherschutz) und andererseits Patienten und Patientinnen sowie Betroffene befähigen (Empowerment/Befähigung).

Am besten etabliert ist Anwaltschaft als Methode in Form der „Anwaltsplanung“. Dieser Ansatz (auch genannt: advokatorische Planung; englisch: advocacy planning) stammt vor allem aus den Vereinigten Staaten. Er wurde Anfang der 1970er-Jahre in Deutschland bekannt als ein Verfahren der Beteiligung von Bewohnerinnen und Bewohnern in städtebaulichen Planungsprozessen. Anwaltsplanerinnen und -planer erstellen zusammen mit Bürger- bzw. Anwohnergruppen alternative Lösungen im Interesse ihrer „Klientinnen und Klienten“, wobei die Entwürfe der „Gegenanwälte“ mit Planungen der Verwaltung konkurrieren. Bei längerfristigen Prozessen der Stadtentwicklung gibt es von der Anwaltsplanung fließende Übergänge zur Gesundheitsbezogenen Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit.

Anwaltschaft für die Gesundheit

In diesem Zusammenhang wird das anwaltschaftliche Eintreten für das Ziel „Gesundheit“ gefordert. Dabei gilt es, im Namen der Gesundheit eine Vielzahl potenziell positiver oder auch negativer Faktoren für Gesundheit zu beeinflussen und dies insbesondere mit Blick auf Einflussfaktoren auf gesundheitliche Chancengleichheit. Dies entspricht in starkem Maße auch dem in der Ottawa-Charta formulierten Erfordernis einer Gesundheitsfördernden Gesamtpolitik.

Gesundheitsförderndes Handeln im Sinne der Ottawa-Charta zielt darauf ab, durch aktives anwaltschaftliches Eintreten politische, ökonomische, soziale, kulturelle, biologische sowie Umwelt- und Verhaltensfaktoren positiv zu beeinflussen und der Gesundheit zuträglich zu machen (Erklärungs- und Veränderungsmodelle III). Anwaltschaft wird immer dann nötig, wenn eine Betroffenengruppe oder ein gesellschaftspolitisches Ziel wie Gesundheit als nicht genügend artikulations- und durchsetzungsfähig angesehen wird. Wenn anwaltschaftliches Eintreten ohne intensive Beteiligung derer, für die man etwas erreichen möchte, erfolgt, besteht die Gefahr, dass an den wirklichen Interessen von Betroffenen vorbeigehandelt wird (Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger; Empowerment/Befähigung). Zu denken ist hier insbesondere an Anstrengungen unterschiedlicher Berufsgruppen, unter dem Etikett der Gesundheitsförderung eigene eng gefasste Professionalisierungsinteressen zu verfolgen.

Im Kontext globaler Entwicklungen wurden im Verlauf der Zeit unterschiedliche Begrifflichkeiten geprägt, die Aspekte anwaltschaftlichen Handelns der (inter-)nationalen Akteure beschreiben. Zwischen den Feldern Public Health, internationale Angelegenheiten, Recht und Wirtschaft ist dabei ein Raum für „Health diplomacy“ entstanden, in dem globale Strategien und Policies für Gesundheit entwickelt, verhandelt und gesteuert werden (Kickbusch, Lister, Told & Drager 2013). Bereits seit der vierten internationalen Konferenz für Gesundheitsförderung 1997 in Jarkarta werden sektorübergreifende Kooperationen als wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Gesundheitsförderung genannt (Jakarta Declaration on Leading Health Promotion into the 21st Century). Im Jahr 2013 in Helsinki wird diese „Health in All Policies“ (HIaP) Strategie im Abschlussstatement mit klaren Forderungen zur Umsetzung unterstrichen (The Helsinki Statement on Health in All Policies).

Ansätze für sektorübergreifende Zusammenarbeit finden sich auf allen (inter-)nationalen Ebenen (z. B. Bund, Länder und Kommunen). Aktuell ist der Sachstandsbericht über gesundheitliche Chancengleichheit in der Europäischen Region der WHO (2019) erschienen. Hier wird ein anwaltschaftliches Eintreten für gleiche Gesundheitschancen im Gesundheitswesen, bei Einkommen und sozialer Sicherheit, Lebensbedingungen wie Wohnen und Grünflächen, Humankapital wie Bildung sowie Beschäftigung und Arbeitsbedingungen nahegelegt. Um Gesundheitsförderung zu stärken ist auch die individuelle Kompetenz, sich für die eigene bzw. gesamtgesellschaftliche Gesundheit einzusetzen (Health Literacy/Gesundheitskompetenz) ein wichtiger Faktor.

Im deutschen Gesundheitsbereich sind neben Einzelpersonen und -institutionen vor allem Kooperationszusammenschlüsse wie regionale Arbeitsgemeinschaften für Gesundheitsförderung oder Gesundheitskonferenzen (z. T. gesetzlich verankert, wie z. B. in NRW, Bayern und Hamburg) angetreten, neben Kooperation und Koordination auch das Interesse der Gesundheit anwaltschaftlich für eine Kommune oder eine Stadt zu vertreten (Vermitteln und Vernetzen). Auch die Landesvereinigungen für Gesundheit sowie Selbsthilfeorganisationen (Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung) wie z. B. der Bundesverband alleinerziehender Mütter und Väter wirken v. a. anwaltschaftlich für allgemeine gesundheitsbezogene Belange.

Seit 2003 ist der von der BZgA initiierte und maßgeblich unterstützte Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“ hinzugekommen. Ihm gehören aktuell (Stand Oktober 2019) 74 Partnerorganisationen aus kommunaler Selbstverwaltung, dem Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich an. In allen 16 Bundesländern gibt es Netzwerke “Gesundheitliche Chancengleichheit“, die von Koordinierungsstellen begleitet und unterstützt werden. In der Regel werden diese Angebote hälftig von den Bundesländern und Kassenarten übergreifend von den Krankenkassen auf Landesebene finanziert. Ein Ausbau dieser Strukturen erfolgte im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) von 2015. Träger sind in der Regel die Landesvereinigungen für Gesundheit (aktuelle Information siehe www.gesundheitliche-chancengleichheit.de). Um die Gesundheitsförderung in Lebenswelten zu stärken, wird der Aufbau integrierter kommunaler Konzepte unterstützt (siehe Richter-Kornweitz & Utermark 2013 sowie zahlreiche weitere aktuelle Medien unter www.praeventionsketten-nds.de). Der Austausch von Erfahrungswissen wird durch das Internetangebot inforo online ergänzt (www.inforo-online.de).

Anwaltschaftliche Vertretung durch solche Kooperationsgremien bedeutet oftmals, sich in andere Politikbereiche „einzumischen“ und Gesundheitsbelange dort aktiv zu vertreten. Die Funktion der anwaltschaftlichen Interessenvertretung für Gesundheit im Sinne einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik kommt in den regionalen und kommunalen Gremien häufig zu kurz gegenüber der Organisation und Koordination von gesundheitsfördernden Angeboten und Anbietern. Auch erweist sie sich in vielen Fällen kaum als realisierbar, da das Gesundheitsressort vielfach politisch zu schwach ist, um Gesundheitsinteressen in anderen Politiksektoren zur Geltung zu bringen (z. B. in der Stadtplanung und Verkehrspolitik, bei Gewerbeansiedlungen oder im Konflikt mit wirtschaftlichen Prestigeprojekten).

Als erfolgreich hat sich seit Jahren ein kooperatives Vorgehen zur Vertretung von Gesundheitsförderungszielen in Politikbereichen außerhalb des Gesundheitswesens erwiesen. So wurden 2008/09 in allen Bundesländern Regionalkonferenzen zur Verankerung des Gesundheitsförderungsaspekts im Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ durchgeführt. In vielen Bundesländern konnte eine Zusammenarbeit zwischen Quartiersmanagerinnen und -managern sowie den Landesvereinigungen für Gesundheit initiiert werden. Grundlage war eine Kooperation zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Rahmen des Kooperationsverbundes „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“. Aktuelle internationale Informationen zu Gesundheit und Gesundheitlicher Chancengleichheit finden sich auch auf https://eurohealthnet.eu.

In allgemeiner Form hat sich Laverack (2010) mit der Frage befasst, inwieweit Gruppen des bürgerschaftlichen Engagements und Public-Health-Fachleute Einfluss auf Regierungspolitik nehmen können. Empirische Studien lassen ihn zu dem Schluss kommen, dass guter Zugang zu internen Politikzirkeln und Beiräten durchaus effektiv sein kann. Weiterhin gibt es Belege dafür, dass Einflussnahme umso erfolgreicher ist, je technokratischer die gewünschte Politik ist, je klarer die Ziele und je kürzer die Umsetzungsdauer sind. Im Umkehrschluss: Je komplexer die im Namen der Gesundheitsförderung befürwortete Politik ist, desto geringer sind die Erfolgsaussichten.

Literatur:

BMI – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (o. J.): Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“. Zugriff am 04.10.2019 unter www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/soziale_stadt_node.html?id=.
Carlisle, S. (2000). Health promotion, advocacy and health inequalities: a conceptual framework. Health Promotion International, 15(4), 369–376. doi:10.1093/heapro/15.4.369.
Kickbusch, I., Lister, G., Told, M. & Drager, N. (2013). Global Health Diplomacy: Concepts, Issues, Actors, Instruments, Fora and Cases. New York: Springer
Laverack, G. (2010). Influencing public health policy: to what extent can public action defining the policy concerns of government? Journal of Public Health, 18(1), 21–28. doi:10.1007/s10389-009-0274-5
Richter-Kornweitz, A. & Utermark, K. (2013). Werkbuch Präventionskette: Herausforderungen und Chancen beim Aufbau von Präventionsketten in Kommunen. Hannover: Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen.
WHO (1997): Jakarta Declaration on Leading Health Promotion into the 21st Century. Zugriff am 04.10.2019 unter www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/jakarta/declaration/en.
WHO (2013): The Helsinki Statement on Health in All Policies. Zugriff am 04.10.2019 unter www.who.int/healthpromotion/conferences/8gchp/8gchp_helsinki_statement.pdf.
WHO (2019): Health Equity Status Report. Zugriff am 04.10.2019 unter www.euro.who.int/en/publications/abstracts/health-equity-status-report-2019.

Weiterführende Quellen:

Dierks, M. L. (2001). Patientensouveränität: Der autonome Patient im Mittelpunkt. Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg.
Franke, A. (2012). Modelle von Gesundheit und Krankheit: Göttingen: Hogrefe.
Gold, C. (2009). Gesundheitsförderung in den Quartieren der Sozialen Stadt: Auf dem Weg zu einer neuen Qualität der Zusammenarbeit in den Ländern. Berlin: Gesundheit Berlin e.V.
Haglund, B., Peterson, B., Finer, D. & Tillgren, P. (1997). Creating supportive environments for health: Stories from the third international conference on health promotion. Geneva: World Health Organization.
Hüsing, B., Hartig, J., Bührlen, B., Reiß, T. & Gaisser, S. (2008). Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem: Zukunftsreport. Zugriff am 04.10.2019 unter https://books.google.de/books?id=DCgQcgAACAAJ.
Schienkiewitz, A. & Dierks, M. L. (2001). Beratungseinrichtungen, Patientenorganisationen und Verbraucherschutz. In M. L. Dierks (Hrsg.). Patientensouveränität: der autonome Patient im Mittelpunkt. Stuttgart: Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg.

Internetadressen:

Chancengleichheit im Rahmen der UN-Nachhaltigkeitsziele SDG: www.euro.who.int/de/home
Internationale Informationen über Gesundheit und Gesundheitliche Chancengleichheit: https://eurohealthnet.eu
Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Portal für Fachaustausch: www.inforo-online.de
Wegweiser Gesundheitsförderung der BZgA: www.wegweiser.de

Verweise:

Empowerment/Befähigung, Erklärungs- und Veränderungsmodelle 3: Persuasion, Diffusion, Marketing und Medienanwaltschaft, Gesundheitsbezogene Gemeinwesenarbeit, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Gesundheitskonferenzen, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Vermitteln und Vernetzen