Subjektive Gesundheit: Alltagskonzepte von Gesundheit

Toni Faltermaier

(letzte Aktualisierung am 12.03.2024)

Zitierhinweis: Faltermaier, T. (2020). Subjektive Gesundheit: Alltagskonzepte von Gesundheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i119-3.0

Zusammenfassung

Menschen entwickeln durch ihre Sozialisation und Erfahrungen ein subjektives Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Die damit verbundenen Vorstellungen und Kompetenzen wirken oft versteckt im Alltag – im Rahmen eines „Laiengesundheitssystems“. Etwa wenn es darum geht, Krankheiten präventiv zu vermeiden, zu erkennen und selbst zu behandeln oder kranke Menschen im Umfeld zu versorgen und zu pflegen. Seit den 1970er-Jahren hat die Forschung die Alltagskonzepte von Gesundheit und Krankheit umfassend untersucht. Die Erkenntnisse helfen dabei, Maßnahmen der Gesundheitsförderung so zu planen, dass sie die im Laiensystem etablierten Aktivitäten, Kompetenzen und Ressourcen aufgreifen und einbeziehen.

Schlagworte

Subjektive Konzepte von Gesundheit, Subjektive Theorien von Gesundheit, Laiengesundheitssystem, Subjektansatz der Gesundheitsförderung,, Gesundheitshandeln


Gesundheit ist ein im Alltag und von Expertinnen und Experten umfassend verwendeter, aber wissenschaftlich schwer fassbarer Begriff. Er bezieht sich zum einen auf objektive Phänomene, die weitgehend über einen medizinisch-naturwissenschaftlichen Zugang zum Organismus und seinen Störungen erschlossen werden. Zum anderen stellt die Gesundheit aber immer auch ein subjektives Phänomen dar, weil sie von Menschen wahrnehmbar und erlebbar ist, negativ etwa in Form von körperlichen Einschränkungen und Leiden, positiv in Form von körperlichem und psychischem Wohlbefinden. Gesundheit wird zwar vielfach als Gegenbegriff zu Krankheit verstanden, lässt sich aber nicht auf die Abwesenheit von Krankheit reduzieren.

In der Tradition der WHO und der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung wurde explizit ein positiver Gesundheitsbegriff formuliert, der sich auf körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden bezieht. Gesundheit wird hier mehrdimensional auf einer körperlichen, psychischen und sozialen Ebene verstanden, die jeweils subjektiv bestimmbar ist.

Gesellschaftliche und soziale Bestimmungen von Gesundheit

Gesundheit ist zwar vom Individuum erlebbar, sie ist aber keineswegs ein rein individuelles Phänomen; sie wird nicht nur subjektiv hergestellt, sondern auch sozial bestimmt. Historisch gesehen sind unsere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit im ständigen Wandel; sie unterscheiden sich nicht nur in verschiedenen historischen Epochen, sondern auch zwischen verschiedenen Kulturen.

In jeder Gesellschaft wird Gesundheit auch normativ gefasst, womit sie eine sozial bestimmte Norm darstellt. Krankheit ist als Abweichung von der Norm nicht nur medizinisch definiert, sondern auch sozial. Die Gesundheit der Mitglieder einer Gesellschaft wird auch über ihre Funktionalität für das soziale System bestimmt: Soziologisch wird Gesundheit definiert als Arbeits- und Leistungsfähigkeit zur Erfüllung der gesellschaftlich vorgegebenen Aufgaben und Rollen.

Die Aufrechterhaltung der Gesundheit der Bevölkerung muss somit auch als zentrale gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, die heute durch ein differenziertes professionelles Gesundheitssystem mit entsprechenden sozialen Rollen (Arzt und Ärztin, Patient und Patientin) erfüllt werden soll.

Gesundheit wird jedoch nicht allein von Expertinnen und Experten bestimmt, sondern auch wesentlich im Alltag der Menschen hergestellt. Sie haben in ihrer Sozialisation und durch Erfahrungen vielfältige Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sowie entsprechende Kompetenzen entwickelt, die ihren Umgang mit Gesundheit und Krankheit bestimmen.

Das „Laiengesundheitssystem“ wirkt verborgen im Alltag und wurde wissenschaftlich lange Zeit übersehen; es erbringt aber umfangreiche und nicht ersetzbare Leistungen zur Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung (Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung). Medizinische Laien tragen im Alltag individuell und sozial abgestimmt in vielfacher Weise zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit bei, ohne dabei Kontakt zum professionellen System haben zu müssen; sie entwickeln zahlreiche Aktivitäten, um Krankheiten zu vermeiden, sie in ihrer Frühphase zu erkennen oder sie selbst zu behandeln. Außerdem unterstützen, versorgen und pflegen sie kranke Menschen in ihrer Familie und ihrem Umfeld.

Das Laiensystem arbeitet auf der Basis eines Alltagswissens über Gesundheit und Krankheit und eines Systems an Vorstellungen, die zwar vielfach von Expertinnen und Experten beeinflusst werden können, sich aber auch eigenständig entwickeln (Faltermaier 2023b).

Alltagskonzepte von Gesundheit und Krankheit

Insbesondere die sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung hat seit den 1970er-Jahren die Alltagskonzepte von Gesundheit und Krankheit umfassend untersucht, durch qualitative und quantitative Studien in vielen Ländern und Kulturen.

Eine erste klassische Studie wurde 1973 von der französischen Sozialpsychologin Claudine Herzlich zu den sozialen Repräsentationen von Gesundheit und Krankheit durchgeführt. Viele Untersuchungen zu den subjektiven Gesundheitskonzepten folgten, mit einem Schwerpunkt in den europäischen Ländern, sodass heute eine solide Basis an Erkenntnissen vorliegt (vgl. Faltermaier 2023a):

  • Gesundheit wird von Laien sowohl positiv als auch negativ bestimmt; repräsentative Studien zeigen, dass positive Definitionen der eigenen Gesundheit deutlich häufiger vorkommen als negative. Die am meisten verbreitete Kategorie scheint psychisches Wohlbefinden zu sein.
  • Gesundheit wird von Laien auf einer körperlichen, psychischen und sozialen Ebene beschrieben, vielfach sogar auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
  • Positive Bestimmungen von Gesundheit umfassen zum einen das eigene Befinden, das als psychisches Wohlbefinden (innere Ausgeglichenheit und Ruhe, Lebensfreude und Zufriedenheit) oder körperliches Wohlbefinden, als innere Kraft und Stärke sowie als umfassendes seelisches Gleichgewicht oder soziale Harmonie beschrieben wird. Zum anderen wird Gesundheit als Aktionspotenzial verstanden, das sich als Reservoir an Energie (körperlich, geistig, auch als Widerstandskraft gegenüber schädlichen Einflüssen), als körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit oder als grundlegende Handlungsfähigkeit (z. B. am Morgen gut aufstehen zu können) ausdrücken kann.
  • Negative Bestimmungen von Gesundheit beziehen sich zum einen auf die Abwesenheit einer Krankheit („Schweigen der Organe“), zum anderen auf ein geringes Maß an körperlichen oder psychischen Beschwerden, Schmerzen oder Problemen.
  • Die Frage, ob sich Alltagskonzepte nach der sozialen Schicht und dem Geschlecht unterscheiden, lässt sich nicht eindeutig beantworten, weil dazu nur wenige repräsentative Untersuchungen vorliegen. Tendenziell scheinen aber Frauen differenziertere Gesundheitskonzepte zu vertreten, die mehr die psychische Dimension betonen, während Männer stärker die Leistungsfähigkeit hervorheben. In den mittleren und höheren sozialen Schichten werden eher positive Definitionen von Gesundheit gegeben, während in unteren sozialen Schichten mehr negative und instrumentelle Bestimmungen erfolgen.
  • Werden kranke Menschen (z. B. Herzinfarktpatienten und -patientinnen) nach ihrem Verständnis von Gesundheit gefragt, dann scheinen sie ähnliche Konzepte zu haben wie gesunde; auch bei ihnen dominiert das psychische Wohlbefinden als Kategorie von Gesundheit.

Biografisch orientierte qualitative Untersuchungen zeigen, dass Laien nicht nur inhaltlich differenzierte Konzepte von Gesundheit formulieren, sondern sie auch mit einer Veränderungsdynamik verbinden. So konnten Faltermaier, Kühnlein & Burda-Viering (1998) in qualitativen Interviews mit Berufstätigen vier dynamische Typen von Gesundheitskonzepten rekonstruieren:

  • On-off-Dynamik: Mit Gesundheit oder Krankheit gibt es nur zwei alternative Zustände. Beim Eintreten einer Krankheit geht automatisch und übergangslos die Gesundheit verloren, und umgekehrt.
  • Reduktionsprozess: Gesundheit stellt sich zu Beginn des Lebens als maximales Potenzial dar, das im Laufe des Lebens in einem kontinuierlichen Prozess durch unterschiedliche Einflüsse (Alter, Krankheit, Risiken etc.) mehr oder weniger schnell abnehmen kann.
  • Regenerationsprozess: Gesundheit kann als Potenzial im Laufe des Lebens abnehmen, sie kann sich aber auch unter günstigen Umständen wieder aufbauen.
  • Expansionsprozess: Gesundheit kann sich unter sehr günstigen Umständen erweitern; sie ist kein begrenztes Potenzial.

Obwohl sich ein Großteil der Forschung auf die Gesundheitskonzepte von Erwachsenen konzentriert hat, gibt es auch Erkenntnisse darüber, wie sich bei Kindern und Jugendlichen die Konzepte von Krankheit und Gesundheit entwickeln. Während Kinder im Grundschulalter Gesundheit eher negativ bestimmen und als Fehlen von Krankheit und Beschwerden verstehen, werden die Gesundheitskonzepte im Jugendalter differenzierter und enthalten zunehmend positive Bestimmungen von Gesundheit, die dann auch stärker die psychische Ebene einbeziehen.

Subjektive Theorien von Gesundheit und Krankheit

Neben den beschriebenen subjektiven Konzepten von Gesundheit sind bei Laien auch Vorstellungen untersucht worden, die als subjektive Theorien von Gesundheit und Krankheit bezeichnet werden. Sie umfassen – analog zu wissenschaftlichen Theorien – Ideen oder Überzeugungen darüber, welche positiven oder negativen Einflüsse auf die eigene Gesundheit möglich sind und wie sie zusammenwirken. In der genannten Untersuchung von Faltermaier, Kühnlein & Burda-Viering (1998) wurden aus qualitativ-biografischen Interviews mit berufstätigen Erwachsenen vier Typen von subjektiven Gesundheitstheorien rekonstruiert:

  • Bei Risikotheorien nehmen die Menschen an, dass ihre Gesundheit im Wesentlichen durch Risiken gefährdet wird, entweder durch externe Risiken, Belastungen oder Schadstoffe (am Arbeitsplatz, in der Umwelt etc.) oder durch eigenes riskantes Verhalten oder ihre Lebensweise (Rauchen, Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung etc.) (Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell).
  • In Ressourcentheorien wird der hauptsächliche Einfluss auf die eigene Gesundheit in der Verfügbarkeit über interne oder externe Ressourcen gesehen: Sind Ressourcen in der eigenen Disposition (körperliche Robustheit oder starke Persönlichkeit), in der Lebensweise (befriedigende Arbeit etc.) oder in der sozialen Umwelt (gute und unterstützende Beziehungen) vorhanden, kann nach dieser Theorie die Gesundheit erhalten werden. Gehen Ressourcen verloren oder werden sie geschwächt, wird die Gesundheit als gefährdet gesehen.
  • Ausgleichs- und Balancetheorien sehen eine Wechselwirkung zwischen Risiken und den Möglichkeiten, sie ausgleichen oder kompensieren zu können. Belastende Arbeitsbedingungen stellen hier nicht nur Risiken dar. Sie können z. B. durch geeigneten Ausgleich in der Freizeit oder durch eine gute familiäre Unterstützung kompensiert werden. Oder es besteht die Vorstellung, dass Gesundheit nur durch eine Balance von körperlichen, psychischen und sozialen Kräften herzustellen ist, d. h. jede Person muss ihr Gleichgewicht finden zwischen den Anforderungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten auf allen drei Ebenen.
  • Schicksalstheorien nehmen an, dass die Gesundheit dann verloren geht, wenn eine Krankheit bedingt durch Alter oder Schicksal oder Zufall eintritt.

Ein umfangreiches Forschungsfeld beschäftigt sich mit den subjektiven Theorien („Mental representations“) bei spezifischen Krankheiten (Krebs, Herzinfarkt, Aids, Depression etc.). Dabei werden insbesondere kranke Menschen danach befragt, welches Bild sie von ihrer Krankheit haben, welche Ursachen sie ihrer Krankheit zuschreiben, welche Annahmen sie über Heilungsmöglichkeiten und die Folgen ihrer Krankheit haben (vgl. Hoefert & Brähler 2013).

Bedeutung von Alltagskonzepten für die Gesundheitsförderung

Die Alltagsvorstellungen von Gesundheit und Krankheit werden insbesondere deshalb untersucht, weil sie als wesentliche Bedingungen des Gesundheitshandelns (Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten, Gesundheitshandeln) gelten. Das gilt sowohl für den Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung als auch für den Umgang mit Krankheit.

Wenn Professionelle Maßnahmen der Gesundheitsförderung planen, sollten sie die Menschen dort abholen, wo sie subjektiv stehen (Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren). Das heißt, sie sollten ihre Alltagskonzepte von Gesundheit und Krankheit kennen und verstehen sowie ihre bereits im Laiensystem etablierten Aktivitäten und ihre für die Gesunderhaltung verfügbaren Kompetenzen und Ressourcen berücksichtigen, bevor sie intervenieren (Rosenbrock & Hartung 2012).

So sollten z. B. für die Gesundheitsförderung von alleinerziehenden Frauen zunächst die gesundheitlichen Bedürfnisse und Probleme analysiert, über ihre Gesundheitsvorstellungen näher präzisiert und dann auf dieser subjektiven Basis ein Ansatz der Gesundheitsförderung aufgebaut werden, der auf der subjektiven Lage der Zielgruppe basiert.

Wenn Expertinnen und Experten in der Gesundheitsförderung die Zielgruppen am Veränderungsprozess beteiligen und über Empowerment/Befähigung nachhaltige Wirkungen erzielen wollen, müssen sie an ihren Vorstellungen ansetzen, ihre Handlungskompetenzen berücksichtigen und ggf. erweitern. In der Interaktion zwischen Expertinnen und Experten und ihren gesunden oder kranken Zielgruppen sollte das Alltagswissen sichtbar gemacht und nicht ignoriert oder entwertet werden. Nur so kann ein dialogischer Prozess der Veränderung entstehen, der auch langfristig im Alltag wirksam ist.

Literatur:

Faltermaier, T. (2023a). Gesundheitspsychologie. 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart: Kohlhammer.

Faltermaier, T. (2023b). Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In: M. Richter & K. Hurrelmann (Hrsg.). Soziologie von Gesundheit und Krankheit (S. 247−260). 2. Auflage, Wiesbaden: Springer VS.

Hoefert, H.-W. & Brähler, E. (Hrsg.) (2013). Krankheitsvorstellungen von Patienten: Herausforderung für Medizin und Psychotherapie. Lengerich: Pabst.

Faltermaier, T., Kühnlein, I. & Burda-Viering, M. (1998). Gesundheit im Alltag: Laienkompetenz in Gesundheitshandeln und Gesundheitsförderung. Weinheim: Juventa.

Rosenbrock, R. & Hartung, S. (Hrsg.). (2012). Handbuch Partizipation und Gesundheit. Bern: Huber.

Weiterführende Quellen:

Faltermaier, T. (2005). Subjektive Konzepte und Theorien von Gesundheit und Krankheit. In: R. Schwarzer (Hrsg.). Gesundheitspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie (S. 31–53). Göttingen: Hogrefe.

Kohlmann, C.-W., Salewski, C. & Wirtz, M. A. (Hrsg.) (2018). Psychologie der Gesundheitsförderung. Bern: Hogrefe.

Verweise:

Empowerment/Befähigung, Gesundheitsverhalten, Krankheitsverhalten, Gesundheitshandeln, Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Zielgruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren